Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) oder Rechenschwäche stehen vor besonderen Herausforderungen. Im Schulalltag erleben sie oft Misserfolge, zweifeln dann an ihren Fähigkeiten und verlieren manchmal sogar ganz die Freude am Lernen. Oft wissen Eltern und Lehrkräfte gar nicht, welche Unterstützung wirklich hilfreich ist. Dieser Artikel zeigt, was Kinder mit LRS oder Dyskalkulie wirklich brauchen – und gibt Tipps, wie wir sie dabei unterstützen können.
Ermutigung statt Druck
Viele Kinder und Jugendliche mit einer Lernschwäche hören ständig: „Du musst dich mehr anstrengen! Du musst mehr üben!“ Dabei geben sie schon ihr Bestes und verbringen viel mehr Zeit mit dem Lernen bzw. dem Erledigen von Hausaufgaben als andere Kinder. Meine Grundschüler berichten häufig, dass sie mehrere Stunden mit Hausaufgaben verbringen. Für Hobbys bleibt dann neben der ganzen Arbeit und eventuell zusätzlichen Therapien kaum noch Zeit.
Das können wir tun:
- Statt immer mehr Druck aufbauen und den Schülerinnen und Schülern noch zusätzliche Aufgaben mit nach Hause zu geben – nämlich die, die sie in der Schule nicht geschafft haben – den Druck herausnehmen. Sind die Hausaufgaben wirklich nötig, bringen sie das Kind tatsächlich weiter?
- Kindern und Jugendlichen mit Verständnis begegnen, sie abholen, wo sie stehen, ihnen Aufgaben geben, die sie schaffen können und die sie ermutigen.
- Sie brauchen Erwachsene, die ihnen wertschätzend gegenübertreten und ihnen vermitteln, dass sie an sie glauben.
- Ermutigend wirkt auch, den eigenen Fortschritt zu beobachten, statt sich mit anderen in der Klasse zu vergleichen: Wie viele Aufgaben habe ich diesmal geschafft, wie sieht das im Vergleich zum letzten Mal aus? Eine Erfolgsliste macht die Fortschritte sehr schön sichtbar.
Individuelles Lerntempo
Kinder mit einer LRS oder Rechenschwäche können, wie alle anderen auch, lesen, schreiben und rechnen lernen. Sie brauchen jedoch oft mehr Zeit, um neue Inhalte zu verarbeiten. Lehrpläne und feste Zeitvorgaben in der Schule berücksichtigen das jedoch selten. Stattdessen gibt es enge Zeitvorgaben, in denen etwas gelernt bzw. ein bestimmter Stand erreicht werden muss. Dieser Lernstand wird dann durch einen Test abgefragt und bewertet und als „erledigt“ abgehakt. Selten wird geschaut, was der Schüler oder die Schülerin noch braucht, um weiterzukommen. Vielmehr beginnt das neue Thema und der Kreislauf damit von Neuem. Können Kinder und Jugendliche in diesem Tempo nicht mithalten, entstehen Lücken im Lernstoff, die immer größer werden. Eine stabile Basis für das Weiterlernen fehlt. Das führt zu Stress, Frustration und dem Gefühl, „nicht mitzukommen“.
Kinder mit einer LRS oder Rechenschwäche brauchen häufigere Wiederholungen als ihre Mitschüler. Das Automatisieren fällt ihnen schwerer. Während andere Kinder bestimmte Wörter oder Rechenwege intuitiv abspeichern, müssen sich Kinder mit LRS oder Rechenschwäche diese bewusst erarbeiten.
Das können wir tun:
- Ein angepasstes Lerntempo nimmt Druck aus dem Lernprozess und ermöglicht es Kindern, in ihrem eigenen Rhythmus Fortschritte zu machen.
- Dazu ist es erforderlich, die gestellten Anforderungen zu überdenken: Satt 5 Lösungen zu finden, wäre es doch auch vertretbar, wenn nur eine gefunden wird oder statt 5 Päckchen nur 2 gerechnet werden müssen.
- Einige meiner Schüler haben Lehrkräfte, die sie entsprechend unterstützen. Sie bieten z.B. auch an, dass Aufgaben nicht immer schriftlich bearbeitet werden müssen, sondern dass auch mündliche Erklärungen ausreichen, die z.B. auf das Handy aufgesprochen werden.
- Im Rahmen des Nachteilsausgleichs gibt es auch in vielen Bundesländern die Möglichkeit, dass Schüler in Klassenarbeiten zusätzliche Zeit zur Bearbeitung erhalten.
Einige Schulen haben sich sogar auf den Weg gemacht, das Lernen ganz zu individualisieren. Wie dies die Oberschule Osternburg in Niedersachsen umsetzt, wird in der NRD-Sendung „DAS!“ (11.02,2025) in einem kurzen Filmausschnitt (ab Minute 14:14) dargestellt. Auch die Waldschule Eichelkamp in Wolfsburg macht sich gerade auf den Weg, Unterricht zu individualisieren.
Hilfsmittel ohne schlechtes Gewissen
Der Einsatz von Hilfsmitteln ist in Schulen häufig keine Selbstverständlichkeit bzw. denen vorbehalten, die es „halt anders nicht schaffen“. So wird das Verwenden von unterstützenden Materialien oft als „Mangel“ gesehen. In vielen Klassen ist das Verwenden der Finger als Anschauungsmittel ab Beginn des 2. Halbjahres der ersten Klasse unerwünscht – ab Ende der 1. Klasse wird es vielfach sogar verboten. Viele meiner Schüler brauchen die Anschauung aber noch und verwenden ihre Finger dann heimlich, immer mit einem schlechten Gewissen, weil sie ja nicht dürfen. Andere Schüler verweigern die Unterstützung, z.B. durch Legeplättchen, weil sie nicht zu denen gehören wollen, die es ohne nicht schaffen. Anschauungsmaterial ist beim Mathematiklernen aber unerlässlich. Nur so können Kinder Grundvorstellungen entwickeln und verstehen, was sich hinter den abstrakten Zahlen und Zeichen versteckt. Ohne diese Vorstellungen rechnen sie „stur nach Rezept“ und können ihre Ergebnisse nicht interpretieren und auf Plausibilität prüfen (Kann dieses Ergebnis überhaupt stimmen?).
Das können wir tun:
- Sorgen wir dafür, dass die Verwendung von Hilfsmitteln „normal“ wird. Schulz und Wartha plädieren in ihrem Buch „Zahlen und Operationen am Übergang Primar- / Sekundarstufe“ dafür, dass Anschauungsmittel immer Teil des Unterrichts und damit für alle ein wichtiges Hilfsmittel sind. Darstellunsgmittel ermöglichen es, über konkrete oder gedachte Handlungen zu sprechen und wandeln sich so zunehmend von der Rechenhilfe zur Kommunikationshilfe.
- Sehen wir Hilfsmittel als Werkzeuge an, die für Kinder mit LRS oder Rechenschwäche Chancengleichheit schaffen. Die Verwendung eines Vorlesestifts oder einer 1×1-Tabelle beim schriftlichen Multiplizieren ist damit keinesfalls als „Schummeln“ zu wertem oder als Verschaffen eines vermeintlichen Vorteils, den andere nicht haben. Diese Werkzeuge gleichen vielmehr einen bestehenden Nachteil aus und ermöglichen Kindern und Jugendlichen mit LRS oder Rechenschwäche die Teilhabe am Unterricht.
Ein starkes Selbstwertgefühl
Nach den Ergebnissen der IGLU-Studie hängt die Lesekompetenz positiv mit dem Wohlbefinden von Kindern zusammen. El-Mafaalani et al. beschreiben in ihrem Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“, dass für das kindliche Wohlbefinden, eine positive Schulerfahrung und das Gefühl der Verbundenheit mit Erwachsenen entscheidend ist (S. 129). Sie brauchen Erwachsene, die ihnen zugewandt sind und die ihnen etwas zutrauen. „Im Durchschnitt sagen etwa 83 von 100 Kindern, dass es in ihrer Schule mindestens einen erwachsenen Menschen gibt, der ihnen zutraut, erfolgreich zu sein.“ (S. 137). Im Umkehrschluss haben aber 17% der Kinder keinen Erwachsenen, der an sie glaubt. Diese Kinder schreiben ihre Misserfolge ihrer eigenen Person zu. Sie glauben von sich, dass sie nichts können, dass sie zu dumm sind.
Das können wir tun:
- Erwachsene müssen die Stärken der Kinder sehen und diese auch rückmelden, da viele Schülerinnen und Schüler diese bei sich selbst nicht mehr sehen.
- Kinder und Jugendliche mit LRS oder Rechenschwäche können viele andere Dinge sehr gut – verschaffen wir ihnen Gelegenheiten, dies auch zu zeigen. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen helfen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und sie nicht auf ihre Schwächen reduzieren.
- Schülerinnen und Schüler mit LRS oder Rechenschwäche brauchen Vorbilder, die es mit ähnlichen Schwierigkeiten weit geschafft haben. Hierzu gibt es eine Reihe von Büchern, die Lernschwierigkeiten thematisieren oder Helden zeigen, die eine Lernschwäche haben. Besonders gefällt mir aber die Reihe „Little People – Big Dreams“, die in Bildern den Lebensweg von berühmten Persönlichkeiten beschreibt. Dabei wird deutlich, dass heute berühmte Menschen, ebenfalls Herausforderungen in ihrer Kindheit und Jugend zu meistern hatten.
Fehlertoleranz und positive Fehlerkultur
Kinder mit einer LRS oder Rechenschwäche machen viele Fehler. Werden alle Fehler dann mit Rotstift angestrichen, ist das entmutigend und führt zu Frustration. Schülerinnen und Schüler mit LRS oder Rechenschwäche erfahren so immer wieder, dass ihre Anstrengungen (die in der Regel wesentlich höher sind, als bei normal lernenden Kindern) nicht ausreichen. Sie bekommen Angst vor der nächsten Bewertung oder verlieren generell die Motivation, sich mit den Inhalten zu beschäftigen.
Das können wir tun:
- Treffen wir Vereinbarungen, was korrigiert werden soll. Mit meinen Schülerinnen und Schülern setze ich Schwerpunkte, an denen wir arbeiten. In diesen Bereichen werden Fehler angesprochen und überlegt, wie es richtig gehen kann. Alle anderen Fehler, die inhaltlich noch nicht erarbeiteten Schwerpunkten zuzuordnen sind, werden nicht thematisiert. So können sich die Lernenden auf das konzentrieren, was gerade wichtig ist.
- Gemeinsames Reflektieren über „Denkfehler“ ermöglicht neue Erkenntnisse.
- Wir sehen Fehler als Hinweis, nochmal genau hinzuschauen und eventuell bestimmte Dinge zu wiederholen.
- Wir schauen auf die Dinge, die schon gut funktionieren und feiern Erfolge!
- Die Entwicklung einer positiven Fehlerkultur braucht Zeit und ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Schritt für Schritt kann es aber gelingen, Fehler nicht als Versagen zu sehen. Dazu ist z.B. auch hilfreich zu thematisieren, dass viele Erfindungen aus Fehlern entstanden sind. Fehler sind also für etwas gut!
Ein Umfeld, das Verständnis zeigt
Kinder mit LRS oder Rechenschwäche stehen vor vielen Herausforderungen. Das schulische Umfeld, so wie es heute vielerorts noch ist, erschwert ihnen das Lernen. Sie erleben, dass der von ihnen gezeigte Einsatz nicht zum gewünschten Erfolg führt und fühlen sich „anders“ oder nicht verstanden. Das kann frustrierend sein – besonders, wenn ihr Umfeld ihre Schwierigkeiten nicht versteht oder nur auf die Leistung schaut.
Das können wir tun:
- Kinder und Jugendliche brauchen ein Umfeld, das die Herausforderungen anerkennt. Ein Satz wie „Ich sehe, dass du dir große Mühe gibst“ kann viel bewirken. Es zeigt dem Kind, dass sein Einsatz wahrgenommen wird – unabhängig vom Ergebnis.
- Beim Blick auf erzielte Leistungen gilt es, die vielen kleinen Erfolge wahrzunehmen und wertzuschätzen. So erfahren Kinder und Jugendliche, dass sie auf ihrem Weg vorankommen, auch wenn man das noch nicht in den Noten widerspiegelt.
- Kinder mit LRS oder Rechenschwäche brauchen oft mehr Wiederholungen und das braucht mehr Zeit. Vermitteln wir den Kindern und Jugendlichen die Gewissheit, dass sie diese Zeit auch bekommen.
Gezielte, individuelle Förderung
Jedes Kind mit LRS oder Rechenschwäche hat eine eigene Lernbiografie. Genau hier setzt die integrative Lerntherapie an: Sie nimmt die individuellen Stärken und Herausforderungen eines Kindes in den Blick und entwickelt passgenaue Förderansätze.
In der Lerntherapie arbeiten wir individuell an den Fehlerschwerpunkten, bis diese verstanden sind. Das dauert manchmal länger, manchmal geht es recht schnell. Jedes Kind darf in seinem eigenen Tempo lernen und bekommt Zeit, Hilfsmittel und eine individuelle Betreuung. Dabei stehen nicht nur fachliche Inhalte im Mittelpunkt, vielmehr stellt die Persönlichkeitsentwicklung einen weiteren wichtigen Baustein dar. Motivation, Arbeit an den eigenen Zielen und die Stärkung des Selbstwertgefühls sind daher wesentliche Inhalte in der Lerntherapie und machen den Unterschied zur Nachhilfe. Lerntherapie setzt an den individuellen Fehlerschwerpunkten an und ermöglicht das Üben an der Null-Fehler-Grenze. Das Kind wird so weder unter- noch überfordert und erlebt Erfolgserlebnisse.
Neben der Arbeit mit dem Kind beraten Lerntherapeutinnen auch Eltern und Lehrkräfte, wie sie Schülerinnen und Schüler bestmöglich unterstützen können. Die Unterstützung endet also nicht in der Therapiestunde – auch das Umfeld wird einbezogen. Eltern und Lehrkräfte, die nicht nur die Defizite sehen, sondern dem Kind Mut machen und Wege aufzeigen, wie es erfolgreich lernen kann, leisten einen unschätzbaren Beitrag. Ein verständnisvolles Umfeld stärkt das Selbstvertrauen und gibt Kindern die Sicherheit, sich trotz Schwierigkeiten weiterzuentwickeln.
Quellen:
- El-Mafaalani / Kurtenbach / Strohmeier (2025). Kinder – Minderheit ohne Schutz. Aufwachsen in der alternden Gesellschaft, Kiepenheuer & Witsch.
- Schulz / Wartha (2021). Zahlen und Operationen am Übergang Primar- / Sekundarstufe. Grundvorstellungen aufbauen, festigen, vernetzen, Springer Spektrum.
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