Mathematiklehrwerke sind ein fester Bestandteil des Schulalltags. Lehrkräfte orientieren sich an deren Aufbau und planen ihren Unterricht entsprechend um diese Inhalte herum. Das Lehrwerk soll den Schülern Anschauungsmaterial bieten, damit sie die mathematischen Konzepte verstehen können. Kinder haben aber bereits vor Schulbeginn unterschiedliche vorschulische (Lern-)Erfahrungen gesammelt, die sie in die 1. Klasse mitbringen. Das Lernen in der Schule beginnt damit nicht bei null, sondern trifft auf viele unterschiedliche Vorerfahrungen. Ein gutes Lehrwerk trägt dem Rechnung und setzt an diesen Vorerfahrungen an. Besonders für Kinder mit Lernschwierigkeiten ist dies entscheidend. Ist dies nämlich nicht der Fall, werden diese Kinder bereits zu Beginn des ersten Schuljahres abgehängt und können dem Unterricht nicht mehr folgen.
In diesem Blogartikel zeige ich dir, welche Chancen und Herausforderungen Mathematiklehrwerke im Lernprozess bieten, worauf Lehrer und Eltern achten sollten und was man tun kann, wenn nur ein weniger gutes Lehrwerk zur Verfügung steht.
Was ist eine Rechenschwäche?
Eine Rechenschwäche, auch Dyskalkulie genannt, ist eine Lernstörung, die die Fähigkeit betrifft, mathematische Konzepte zu verstehen und anzuwenden. Dabei sind vor allem grundlegende Kompetenzen, die sogenannten Basiskompetenzen, betroffen. Im mathematischen Bereich sind dies das Zählen, welches sowohl die reine Zahlwortreihe als auch das präzise Bestimmen von Anzahlen beinhaltet, das Verständnis für Mengen und Mengenrelationen (was ist mehr / weniger, eine Menge kann aufgeteilt oder zusammengefügt werden) und die Übertragung dieser Erkenntnisse auf Zahlen (auch die Zahlen können aus anderen Zahlen zusammengesetzt oder aufgeteilt werden). Fehlen diese Grundlagen oder sind diese noch nicht sicher ausgebildet, fehlt das Fundament für den Aufbau weiteren mathematischen Wissens und das Kind entwickelt eine Rechenschwäche. Werden nicht frühzeitig unterstützende Maßnahmen ergriffen, hält diese sich bei 75- bis 95 % der Personen bis ins Erwachsenenalter.
Kann ein Lehrwerk eine Hürde beim Lernen darstellen?
Lernschwierigkeiten, wie auch eine Rechenschwäche, entstehen in der Regel aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Kind- und umweltbezogene Faktoren können dabei sowohl Schutz- als auch Risikofaktor sein. Bringt ein Kind also schlechtere Voraussetzungen für das Lernen mit und trifft dann auf einen Unterricht, der durch ein schlechtes Lehrbuch nicht sinnvoll aufeinander aufbaut, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass das Kind eine Rechenschwäche entwickelt. Trifft es dagegen bei den gleichen schlechten Voraussetzungen auf eine Lehrkraft, die mithilfe eines guten Mathebuchs gut strukturierten Unterricht anbietet, ist die Wahrscheinlichkeit, eine Rechenschwäche auszubilden, wesentlich geringer.
Da die unterrichtliche Versorgung derzeit an allen Schulen alles andere als optimal ist, kommt dem Lehrwerk hier eine besondere Bedeutung zu. Lehrkräfte, die fachfremd (vielleicht haben sie Deutsch studiert), schulartfremd (vielleicht sind sie vom Gymnasium abgeordnet für den Unterricht an der Grundschule) oder als Quer- oder Seiteneinsteiger unterrichten, orientieren sich in ihrer Unterrichtsplanung besonders stark am Lehrwerk und dessen Materialien.
Wie sieht ein gutes Mathematik-Lehrwerk aus?
Entwicklungsorientierung
Ein gutes Lehrwerk sollte entwicklungsorientiert aufgebaut sein. Mathematische Basiskompetenzen entwickeln sich in Stufen, und diese Stufen müssen im Lehrbuch sinnvoll durchlaufen werden. Auch muss berücksichtigt werden, mit welchen mathematischen Vorkenntnissen die Kinder in die Schule kommen.
Häufig setzen Erstklasslehrwerke zu hoch an und gehen davon aus, dass die mathematischen Basiskompetenzen bereits vorschulisch erworben wurden. Dies ist jedoch meist nicht der Fall. Von den drei Entwicklungsstufen (nach Krajewski, 2013) haben nur 50 % der Schulanfänger die Stufe 2 bereits erworben. Stufe 3 (relationaler Zahlbegriff) wird dagegen von vielen Kindern erst Ende der 1. bzw. Anfang der 2. Klasse erreicht. Ein gutes Lehrwerk sollte dies berücksichtigen und die Basiskompetenzen gezielt mit aufbauen.
Darstellungsmittel
Anschauungsmaterialien sollten nicht nur die mathematischen Inhalte veranschaulichen, sondern auch als Kommunikationsmittel über mathematische Konzepte dienen. Gute Darstellungsmittel helfen Kindern dabei, wichtige Aspekte von Zahlen zu erfassen und ein echtes Verständnis für Mengen und Zahlenräume aufzubauen. Wenn z.B. Mengen und Zahlen anschaulich miteinander verknüpft werden, kann ein tiefes Zahlenverständnis entstehen. Vier Elemente sollten in der Darstellung dabei doppelt so viel Platz einnehmen wie zwei Elemente und zehn mehr als drei. So bleibt das Größenverhältnis erkennbar und Kinder können Zahlenräume visuell begreifen.
Wichtig ist auch, dass Darstellungsmittel einfach und ohne unnötige Details gestaltet sind. Viele unterschiedliche Farben oder Formen können von den wesentlichen Informationen ablenken und das Arbeitsgedächtnis überfordern. Klare, schlichte Materialien entlasten hingegen und unterstützen das Lernen.
Für größere Mengen, wie etwa ab fünf Elementen, ist es sinnvoll, das Prinzip der „Kraft der Fünf“ zu berücksichtigen. Wenn Kinder Mengen auf einen Blick (quasi-simultan) erkennen, lernen sie schneller, ohne zählend vorzugehen. Das reduziert die Gefahr, später durch zählendes Rechnen Schwierigkeiten zu bekommen.
Versprachlichung
Das Sprechen über mathematische Inhalte hilft den Schülern, innere Bilder und Grundvorstellungen zu entwickeln – ein essenzieller Schritt, um nachhaltiges mathematisches Verständnis zu fördern.
Mathematische Sprache unterscheidet sich deutlich von unserer Alltagssprache. Kinder brauchen daher gezielte Unterstützung, um die Begriffe richtig zu verstehen. Ein gutes Lehrwerk führt deshalb wichtige mathematische Begriffe ein und nutzt Darstellungsmittel, um diese anschaulich zu erklären.
Das Verständnis für mathematische Konzepte entsteht nicht automatisch; deshalb ist es wichtig, dass Kinder lernen, ihre mathematischen Handlungen in Worte zu fassen. Indem Lehrwerke die Schüler aktiv zum Sprechen über Zahlen und deren Strukturen anregen, wird das Nachdenken über die Mathematik gefördert und sie lenken die Aufmerksamkeit auf die wichtigen Inhalte. So können Kinder mathematische Konzepte bewusst wahrnehmen und ein tieferes Verständnis entwickeln.
Wiederholung
Schüler mit Lernschwierigkeiten haben oft Mühe, Zusammenhänge zu erkennen und Fakten langfristig abzuspeichern. Eine eingeschränkte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses führt häufig dazu, dass sie langsamer lernen und mehr Wiederholungen brauchen, um ein stabiles Grundverständnis aufzubauen. Regelmäßige Wiederholungen sind besonders im Bereich der mathematischen Grundfähigkeiten wichtig, da sie dazu beitragen, basale Fertigkeiten zu automatisieren und das Faktenwissen zu festigen.
Ein gutes Mathematiklehrwerk greift deshalb die Inhalte nach dem Prinzip eines Spiralcurriculums immer wieder auf, sodass neu Gelerntes in Verbindung mit Vorwissen gefestigt wird. Indem die Schüler Zahlbeziehungen regelmäßig üben und als Stützpunkte nutzen, können sie mathematische Aufgaben zunehmend selbstsicher bewältigen.
Leider erfüllen nur wenige Schulbücher diese Kriterien, weshalb Lehrkräfte oft kreativ werden müssen.
Was tun, wenn nur ein schlechtes Lehrwerk zur Verfügung steht?
Ein erster Schritt ist immer, das vorhandene Lehrwerk anhand der oben beschriebenen Kriterien zu überprüfen und sich über mögliche Alternativen zu informieren. Nicht immer haben Lehrkräfte aber Einfluss auf die Wahl des Schulbuchs, das im Unterricht verwendet wird. Ein einmal eingeführtes Buch bleibt meist über Jahre im Einsatz, da eine Neueinführung häufig mit viel Arbeit verbunden ist. Manchmal fällt es da schwer, eigene Bedenken zu äußern.
Ist das Lehrwerk eingeführt und muss damit gearbeitet werden, sollten Lehrkräfte sensibel damit umgehen. Wurden bei der ersten Überprüfung mögliche Stolpersteine identifiziert, die durch den didaktischen Aufbau des Lehrwerks entstehen, können unterschiedliche Maßnahmen ergriffen werden. Denkbar wäre z.B.
- die Reihenfolge der Aufgaben anzupassen:
Manchmal macht es aus entwicklungspsychologischer Sicht Sinn, hier Änderungen vorzunehmen und Themen umzustellen. - zusätzliche Übungen zu ergänzen:
Jeder Lehrer verfügt über einen Fundus an Materialien. Sind im Lehrwerk nicht ausreichend Übungen enthalten oder ergeben sich Umstellungen, so dass das Lehrwerk in Teilen nicht genutzt werden kann, kann mit zusätzlichen Übungen ergänzt werden. - Übungen wegzulassen:
Es macht wenig Sinn, ein Lehrwerk von vorn bis hinten durchzuarbeiten. So wie die Möglichkeit besteht, ergänzende Übungen hinzuzunehmen, können einzelne Übungen des Lehrwerks ausgelassen werden, wenn diese im Sinne der oben genannten Kriterien Stolpersteine darstellen. - Darstellungsmittel zu reduzieren:
Einige Lehrwerke enthalten eine Fülle von Darstellungsmitteln, die aber weder ausreichend eingeführt noch regelmäßig genutzt werden. Auch sind nicht alle Darstellungsmittel gleichermaßen geeignet. Hier lohnt es sich, eine Auswahl zu treffen und sich auf wenige gute Darstellungsmittel zu beschränken. - den Schwerpunkt von der Fokussierung auf Rechenergebnisse auf die dahinter liegenden Prozesse zu lenken:
Dies gelingt, indem weniger über Ergebnisse gesprochen wird, sondern in den Mittelpunkt gestellt wird, wie die Kinder zu ihren Ergebnissen gelangen. Auch Diskussionen über falsche Ergebnisse können hierbei sehr hilfreich sein.
Falls du dich zum Thema Rechenschwäche und welche Unterstützung in der Schule oder zuhause möglich ist, beraten lassen möchtest, können Lerntherapeuten ein guter Ansprechpartner für dich sein. Auch können Lerntherapeuten beraten, wie das Schulbuch durch gezielte Übungen ergänzt oder die Reihenfolge der Inhalte verändert werden kann, um den Aufbau mathematischer Grundkompetenzen besser zu fördern.
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