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Nachteilsausgleich bei LRS und Rechenschwäche – Was gilt in Niedersachsen?

Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten stehen vor vielfältigen Herausforderungen. Häufig fehlen ihnen grundlegende Kompetenzen in den jeweiligen Fächern, so dass sie dem schulischen Unterricht nur bedingt folgen können. Zudem braucht das Aufarbeiten und Schaffen einer tragfähigen Basis für die Weiterarbeit ausreichend Zeit. Um trotzdem eine Teilhabe am Unterricht zu ermöglichen und negative Auswirkungen auf die Persönlichkeit des jeweiligen Kindes zu verhindern, gibt es in allen Bundesländern die Möglichkeit der Gewährung eines Nachteilsausgleichs in Deutsch und vielerorts auch in Mathematik. Was genau gilt in Niedersachsen? 

Was ist ein Nachteilsausgleich?

„Als Nachteilsausgleich gilt die Anpassung der äußeren Bedingungen für das Erstellen einer Leistung als Kompensation für eine vorliegende Beeinträchtigung“ (NIBIS, 2023). 

Ein Nachteilsausgleich ist in Niedersachsen lediglich Schülerinnen und Schülern mit einer nachgewiesenen Behinderung vorbehalten (Behrens, 2006). Bei Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen sind in Niedersachsen nur Hilfen im Sinne eines Nachteilsausgleichs vorgesehen. Ein Rechtsanspruch auf Nachteilsausgleich bei einer Lese-Rechtschreib– oder Rechenstörung besteht daher (bisher) nicht. Im Zuge des vom Bundesverfassungsgericht getroffenen Urteils vom 22.09.2023, in welchem Legasthenie als Behinderung anerkannt wird, wird sich dies vermutlich ändern bzw. müsste endlich eine neue gültige Grundlage in Niedersachsen geschaffen werden. 

Schulrechtliche Grundlagen

Die schulrechtliche Grundlage bildet der Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK, 2007) Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben oder im Rechnen vom 04.12.2003, in der Fassung vom 15.11.2007. Dieser wird in den einzelnen Bundesländern in Form von Verwaltungsvorschriften, Erlassen oder Regelungen im Schulgesetz sehr unterschiedlich umgesetzt. In Niedersachsen gilt der Erlass Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen vom 04.10.2005 über sein Gültigkeitsdatum (abgelaufen mit dem 31.12.2012) hinaus. Bis zur Veröffentlichung einer überarbeiteten Fassung soll der Erlass weiter angewandt werden (Niedersächsisches Kultusministerium, 2023).

Was beinhaltet der niedersächsische Erlass?

Lernförderung ist Aufgabe der Schule (Erlass, Punkt 1 und 2)

Grundsätzlich ist es Aufgabe der Schule, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle Schüler die grundlegenden Kompetenzen im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen erwerben können. Die Beobachtung von Schwierigkeiten ist daher Aufgabe aller Lehrkräfte und muss im Rahmen der individuellen Lernentwicklung dokumentiert werden. Zur Feststellung besonderer Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen können normierte Tests eingesetzt werden, zentral ist jedoch die prozessbegleitende Beobachtung durch die Lehrkräfte. Diese muss auch bei außerschulischen Gutachten ergänzend erfolgen und die psychologischen Gutachten entsprechend pädagogisch bewertet werden. Ärztliche Gutachten sind jedoch keine Voraussetzung für die Gewährung besonderer Hilfen!

Unterscheidung allgemeine und besondere Förderung (Erlass, Punkt 3)

Der Erlass unterscheidet zwischen einer allgemeinen und besonderen Förderung. Die allgemeine Förderung soll dabei den möglicherweise auftretenden Sekundärproblemen wie mangelnde Motivation oder emotionalen oder sozialen Problemen vorbeugen. Durch differenzierte Aufgabenstellungen in der Klasse sollen die Selbstwirksamkeitserwartung (Ich kann das schaffen!) und die Lernfreude gestärkt werden. Erst wenn festgestellt wird, dass diese allgemeine Förderung nicht ausreicht, können Förderschritte im Rahmen der besonderen Förderung beschlossen werden. Diese hat laut Erlass zum Ziel, Lernschwierigkeiten zu beheben, aber auch präventiv dem Entstehen von Lernschwierigkeiten entgegenzuwirken.

Die besondere Förderung soll in Klasse 1 und 2 vor allem den Kindern zugutekommen, denen die grundlegenden Voraussetzungen für den Rechen- und Schriftspracherwerb noch fehlen. Schülerinnen und Schüler der Klassen 3 und 4 müssen in ihren Leistungen mindestens über einen Zeitraum von drei Monaten von den allgemeinen Anforderungen abweichen. Erst dann können Maßnahmen der besonderen Förderung im Lesen, Schreiben oder Rechnen durchgeführt werden. Schulische und außerschulische Fördermaßnahmen sollen dabei abgestimmt werden, um eine ganzheitliche Förderung zu ermöglichen.

Die Förderung ist auch in der Sekundarstufe I und den berufsbildenden Schulen fortzuführen, wenn weiterhin grundlegende Schwierigkeiten bestehen. 

Art und Umfang beschließt die Klassenkonferenz (Erlass, Punkt 4)

Die Förderung wird in Art und Umfang von der Klassenkonferenz beschlossen und gründet sich auf die Dokumentation der individuellen Lernentwicklung. Die Hilfen werden dabei individuell auf den jeweiligen Schüler abgestimmt. 

Folgende Hilfen werden im Erlass explizit genannt:

  • Ausweitung der Arbeitszeit
  • didaktische und technische Hilfsmittel (z.B. Anschauungsmaterial)
  • eine an den individuellen Lernstand angepasste Aufgabenstellung
  • pädagogische Würdigung des erreichten Lernstands.

Greifen diese Maßnahmen nicht ausreichend und halten die bestehenden Schwierigkeiten weiter an, wird auf den Einsatz elektronischer Medien hingewiesen, über den wiederum die Klassenkonferenz entscheiden muss. Entscheidend ist außerdem, dass Hilfen immer nur für einen gewissen Zeitraum beschlossen und regelmäßig überprüft werden müssen, um an den jeweiligen individuellen Lernstand der Schüler angepasst zu sein. Die beschlossenen Maßnahmen sollen mit den Erziehungsberechtigen im Rahmen der Gespräche zur individuellen Lernentwicklung erörtert werden (Erlass, Punkt 5). 

Abgrenzung zum Notenschutz (Erlass, Punkt 4)

Schüler mit Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen sind zielgleich zu unterrichten, d.h. sie erhalten dieselben Aufgaben wie alle anderen Schüler und müssen die gleichen Ziele erreichen. Lediglich in Ausnahmefällen kann von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung abgewichen werden (Notenschutz). Schülerinnen und Schüler können dann an ihren Leistungsstand angepasste Aufgaben erhalten. Auch können mündliche Leistungen (auch in den Fremdsprachen) stärker gewichtet oder zeitweilig auf die Bewertung einzelner Leistungen verzichtet werden. 

Die Entscheidung über diese Maßnahmen trifft ebenfalls die Klassenkonferenz auf Antrag der Fachlehrkräfte Deutsch, Fremdsprachen oder Mathematik. Ein zeitweiliger Verzicht auf die Benotung im Fach Mathematik ist nur im Primarbereich zulässig. Das Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung (Notenschutz) muss im Zeugnis vermerkt werden. In Abgangs- oder Abschlusszeugnissen muss jedoch eine Benotung erfolgen. Die festgestellten besonderen Schwierigkeiten dürfen darin nur auf Wunsch eines Erziehungsberechtigten darin vermerkt werden. 

Im Erlass wird außerdem besonders hervorgehoben, dass Rechtschreibschwierigkeiten allein kein Grund dafür sein dürfen, Schülerinnen und Schüler nicht zu versetzen oder sie von einem Wechsel an eine weiterführende Schule auszuschließen. Schwierigkeiten im Lesen und Rechnen werden nicht erwähnt.

Mögliche Umsetzungsmöglichkeiten – Praxisbeispiele verschiedener Schulen aus Niedersachsen

Bei den gewährten Hilfen im Sinne eines Nachteilsausgleichs handelt es sich um Einzelfallentscheidung, die aufgrund pädagogischer Erwägungen getroffen werden. Lehrkräfte sind häufig unsicher bzw. im Kollegium uneins, inwieweit sie Entlastungen für die betroffenen Schüler gewähren können, ohne dabei von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung abzuweichen, d.h. Kinder damit bei der Benotung nicht zu bevorzugen. Auch die Regelung der notwendigen Bewertung in Abschlusszeugnissen wirft die Frage auf, ab wann nach Aussetzen der Benotung wieder damit begonnen werden muss, um eine faire Abschlussbewertung zu erreichen. So wird häufig von dieser Regelung gar nicht oder nur ungern Gebrauch gemacht.

Dennoch gibt es eine Reihe von positiven Beispielen, wie Schülerinnen und Schüler mit einer LRS oder Rechenschwäche im Unterricht unterstützt werden können. Eine Reihe von Möglichkeiten zur Förderung von Kindern mit LRS haben wir im Lerntherapeutennetzwerk gesammelt und auf Kärtchen zum Ausdrucken bereitgestellt. Einige positive Beispiele, wie meine Schüler in ihren Schulen unterstützt werden, stelle ich hier kurz vor:

zusätzliche Bearbeitungszeit, ruhiger Arbeitsort

Die meisten meiner Schüler mit Lernschwierigkeiten erhalten bei schriftlichen Arbeiten zusätzliche Bearbeitungszeit. Diese reicht von zusätzlicher Zeit am selben Tag bis hin zur Weiterarbeit an der Klassenarbeit am nächsten Tag. An der Schule meiner Kollegin Pia Meyer, jetzt in Hessen tätig, kommt dies allen Schülern zugute. Bei Aufsätzen besteht am zweiten Tag die Möglichkeit der Überarbeitung und Überprüfung der Rechtschreibung. 
An vielen Schulen besteht auch die Möglichkeit, die Arbeit in einem ruhigen Raum zu schreiben, so dass weniger Ablenkung besteht. 

Einsatz des C-Pen-Lesestifts, 4. Klasse

Der Schüler darf den Vorlesestift (selbst angeschafft) zum Lesen von Texten, auch Aufgabenstellungen, im Unterricht verwenden. Dazu verwendet er Kopfhörer. So gelingt es ihm, Aufgaben in der vorgesehenen Zeit zu bearbeiten.

Angepasste Darstellung bei Lesetests, 4. Klasse

Der Schüler erhält den Lesetext in Silbenschrift. Die Fragen zum Text sind den jeweiligen Absätzen zugeordnet. So kann der Schüler den Text abschnittsweise lesen und die Fragen beantworten und hat am Ende der Zeit wenigstens einen Teil des Textes bearbeiten können.

Notenschutz in Mathematik, 4. Klasse

Die Schülerin erhält angepasste Aufgaben. Ihrem Leistungsstand entsprechend rechnet sie im Zahlenraum bis 100. Bei Themen aus dem Bereich Geometrie oder Zufall und Wahrscheinlichkeit arbeitet sie mit der Klasse an den gleichen Aufgaben.

Einsatz eines I-Pads, 5. Klasse

Der Schüler, mit großen Schwierigkeiten im handschriftlichen Schreiben, darf seine Texte mit Tastatur in sein I-Pad eintippen und die Texte anschließend ausdrucken.

Digitale Heftführung, 6. Klasse

Der Schüler darf seine Mappen digital führen und Texte per Tastatur eingeben. So muss er sich nicht auf das handschriftliche Schreiben konzentrieren und seine Ergebnisse sind für ihn selbst und für andere lesbar.

Beispiel meiner Kollegin Stefanie Schmidt aus Wunstorf

Mitarbeit im Unterricht:

  • Gewährung zusätzlicher Arbeitszeit
  • Spezifisch gestaltete Aufgabenstellungen (Reduzierung des Textumfanges/ Vorentlastung)
  • Spezielle Organisation des Lern- und Arbeitsplatzes (Gehörschutz/ Einzeltisch)
  • Individuelle Anpassung der Hausaufgaben (Vorentlastung / zeitlichen Umfang einhalten)
  • Größere Exaktheitstoleranz (z.B. beim Schriftbild)
  • Gezielte individuelle Zuwendungen

Schriftliche Prüfungen:

  • Zeitzuschlag bis max. zur Hälfte der regulären Bearbeitungszeit
  • Vorlesen von Aufgabenstellungen
  • Testung in mündlicher Form, statt in schriftlicher
  • Vorlesen/ Lautes Lesen des Geschriebenen
  • Vergrößern des Arbeitsmaterials
  • Komplexe Aufgabenstellungen in Teilaufgaben zerlegen
  • Gezielte individuelle Zuwendung
  • Größere Exaktheitstoleranz (z.B. beim Schriftbild)

Weitere Empfehlungen: 

  • Weiterhin Lesen und Lesesinnverständnis trainieren
  • Weiterhin Durchgliedern einzelner Wörter, Fehleranalyse trainieren (Rechtschreibstrategien)
  • Weiterhin Schriftbild trainieren (Lineatur mit 4 Linien)

Weiterhin positive Rückmeldungen geben, Selbstwertgefühl stärken

Was gilt in den anderen Bundesländern / Österreich?

Sammlung aller Erlasse aus den einzelnen Bundesländern von LegaKids

Baden-Württemberg

Der Nachteilsausgleich bei Legasthenie und Dyskalkulie unter der Lupe – Susanne Seyfried

Brandenburg

Beitrag von Tanja Schikofsky folgt bald

Österreich

Nachteilsausgleich und Notenschutz in Österreich – LernArt Ute Temel

Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung: Der schulische Umgang mit Lese- / Rechtschreibschwierigkeiten

Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung: Der schulische Umgang mit Rechenschwierigkeiten

Quellen:

  • Behrens, U. (2006). Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen. SVBl 5/2006
  • Bildungsportal Niedersachsen (NIBIS) (2023). Rechtliche Vorgaben. Nachteilsausgleich. abrufbar unter https://bildungsportal-niedersachsen.de/inklusive-schule/erlasse/nachteilsausgleich
  • Kultusministerkonferenz (KMK) (2007). Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen. abrufbar unter https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_04-Lese-Rechtschreibschwaeche.pdf
  • Niedersächsisches Kultusministerium (2005). Erlass zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen. abrufbar unter https://www.mk.niedersachsen.de/startseite/schule/lehrkrafte_und_nichtlehrendes_personal/unterricht/schwierigkeiten_im_lesen_rechtschreiben_und_rechnen/schwierigkeiten-im-lesen-rechtschreiben-und-rechnen-6411.html

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