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Lasst die Kinder mit den Fingern rechnen!

Wieder ist die Zeit gekommen… Das 2. Halbjahr hat begonnen und traditionell ist es die Zeit der Diskussion über das Rechnen mit den Fingern. Wird es zu Beginn der 1. Klasse toleriert und teilweise sogar gefördert, sind viele Lehrkräfte der Meinung, dass die Finger zu Beginn des 2. Halbjahres überflüssig werden und es jetzt an der Zeit sei, dass die Kinder ohne die Finger rechnen sollten. Immer wieder kommen zu dieser Zeit Anfragen von besorgten Eltern, deren Kinder in der Schule jetzt die Finger verboten wurden. Sie berichten, dass ihre Kinder die Finger trotzdem, aber jetzt eben heimlich, benutzen. Diese Aussagen kenne ich sehr gut und ich muss sagen, dass ich in meiner Zeit als Lehrerin das Rechnen mit den Fingern ebenfalls kritisch gesehen habe. Heute, als Lerntherapeutin, sehe ich das anders: Lasst die Kinder mit den Fingern rechnen, aber zeigt ihnen, wie es richtig geht!

Warum die Finger ein tolles Darstellungsmittel sind

Beim Rechnenlernen sind wir auf das Verständnis der dahinter liegenden Handlung angewiesen. Wir müssen verstehen, wofür die Zahlen stehen, mit denen wir rechnen sollen. Dazu ist es hilfreich, abstrakte Rechnungen mit Anschauungsmitteln zu verdeutlichen. 5 + 2 = 7 kann z.B. durch reale Gegenstände, wie z.B. 5 Spielzeugautos dargestellt werden, zu denen noch 2 Autos hinzukommen. Die Aufgabe kann aber auch durch Muggelsteine, Wendeplättchen oder Sprünge auf dem Zahlenstrahl dargestellt werden. Auch mit den Fingern lässt sich die Aufgabe veranschaulichen: Zu den 5 Fingern der einen Hand kommen noch 2 Finger an der anderen Hand. Zusammen sind es 7 Finger. 

Die Finger sind im Zahlenraum 10 ein perfektes Darstellungsmittel, das wir kostenlos verwenden können und zudem immer dabei haben. Anders als mathematisches Material, wie z.B. Wendeplättchen, sind sie den jungen Lernern vertraut und werden seit dem Kindergartenalter zum Darstellen von Anzahlen verwendet. Auf die Frage „Wie alt bist du?“ zeigen jüngere Kinder häufig die Anzahl der Jahre mit den Fingern. Darüber hinaus handelt es sich bei den Fingern von Natur aus um strukturiertes Material, nämlich eine Hand mit jeweils 5 Fingern. Die Einsicht in diese Strukturierung wird später das Rechnenlernen unterstützen. Anders als bei Wendeplättchen z.B. muss diese Strukturierung bei Verwendung der Finger nicht künstlich hergestellt werden. 

Warum wird das Rechnen mit den Fingern dann mit Schuleintritt so kontrovers betrachtet und wird spätestens mit Ende der 1. Klasse vielerorts verboten?

Warum ist das Fingerrechnen vielerorts verpönt?

Meiner Meinung hat das damit zu tun, dass die Finger als Darstellungsmittel in vielen Schulen nicht richtig eingesetzt werden. Oft sehe ich Kinder, die zwar die eine Zahl mit den Fingern spontan darstellen können, die zweite Zahl aber zählend hinzufügen. Aus 5 + 2 wird dann von 5 zweimal weitergezählt und jeweils ein Finger hinzugefügt: 6, 7. Dies unterstützt und verfestigt schließlich das zählende Rechnen. Dies verhindert, dass Schülerinnen und Schüler die Addition als das Zusammenfügen von Mengen oder die Subtraktion als das Wegnehmen von Teilmengen verstehen.

Zählendes Rechnen ist bei vielen Schülern mit Rechenschwierigkeiten weitverbreitet. Fingerrechnen wird häufig mit zählendem Rechnen gleichgesetzte und als unreife Rechenstrategie abgelehnt. Viele Lehrkräfte wissen sich irgendwann keine Hilfe mehr und verbieten den Einsatz der Finger (weil sie ja zählendes Rechnen unterbinden wollen). In der Folge nutzen viele Kinder die Finger verdeckt unter dem Tisch oder haben andere „unsichtbare“ Strategien entwickelt, wie z.B. das leichte Tippen der Finger auf dem Tisch. Das Problem des zählenden Rechnens löst sich so nicht und führt Kinder nur in das Dilemma, dass sie etwas „Verbotenes“ tun.

Wie kann das Rechnen mit den Fingern gelingen und Kinder zu souveränen Rechnern werden lassen?

Werden die Finger als Anschauungsmittel verwendet, um Mengen darzustellen, ist es wichtig, dass sie nicht zählend, sondern als statisches Fingerbild eingesetzt werden, d.h. 4 wird nicht hochgezählt, 1 Finger, 2 Finger, 3 Finger, 4 Finger, sondern die 4 Finger werden spontan gezeigt. (Übrigens kann jedes Darstellungsmittel zählend verwendet werden und zählendes Rechnen fördern, wenn Schulanfängern nicht dir richtigen Strategien vermittelt werden!) Da unsere Finger von Natur aus in zwei 5er-Päckchen geordnet sind, können so Zahlen als Zusammensetzungen und Zerlegungen erfahren werden. 7 wird dargestellt durch eine ganze Hand mit 5 Fingern und noch 2 weiteren Fingern der anderen Hand. Nachdenken über das Fingerbild ermöglicht Einsicht in die dahinterliegenden Zusammenhänge. Kinder erfahren, dass Zahlen aus Teilen zusammengesetzt werden können. Das Teile-Ganzes-Prinzip ist eine wesentliche Voraussetzung für späteres gelingendes Rechnen. 

Die didaktische Kunst ist es nun, die Finger als Hilfsmittel zuzulassen, dabei aber Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken über die Zahldarstellungen anzuregen, damit diese Bilder verinnerlicht werden können. Diese mentalen Zahlrepräsentationen müssen dann mit arithmetischem Verständnis verknüpft werden, damit die Finger (oder jegliches anderes Anschauungsmaterial) nicht zählend verwendet werden.

Wie lange ist das Rechnen mit den Fingern erlaubt?

So lange wie nötig! Es ist fahrlässig, Anfang des zweiten Halbjahres der 1. Klasse auf einmal das Rechnen mit den Fingern zu verbieten. Denn Kindern, die die Finger als Anschauungsmittel verwenden, fehlt noch die innere Vorstellung. Sie können noch nicht ohne Anschauungsmittel mit den Zahlen operieren.

Statt die Finger zu verbieten, müsste daran gearbeitet werden, dass die Schülerinnen und Schüler innere Bilder entwickeln. Dies geht am besten schrittweise, indem zunächst Handlungen mit den Fingern verdeckt ausgeführt werden. So kann die Aufgabe 5 + 2, z.B. mit den Fingern unter dem Tisch gezeigt werden. Wichtig ist es, die Kinder zur Versprachlichung anzuregen. Während die Aufgabe also unter dem Tisch gezeigt wird, sollte das Kind dazu sprechen: „Ich nehme eine ganze Hand und füge dann noch zwei Finger der anderen Hand dazu. Jetzt habe ich sieben.“ Mit zunehmender Übung können diese Handlungen auch nur in der Vorstellung durchgeführt werden. So gelangen die Schülerinnen und Schüler zu stabilen inneren Vorstellungen, die die konkreten Anschauungsmittel mehr und mehr überflüssig werden lassen. So muss keinem Kind der Einsatz der Finger verboten werden, da sich die Schülerinnen und Schüler ganz von allein davon lösen.

weiterführende Literatur:

  • Lorenz, J.-H. (2015). Fingerrechnen: Aspekte aus didaktischer Sicht, in: Lernen und Lernstörungen, 4 (3), Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern, https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/2235-0977/a000107
  • Werner, B. (2012). Fingerrechnen (neu)verstehen, (wieder)entdecken, Lern. Lernstörungen 1 (1), Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern, DOI: 10.1024/2235-0977/a000006

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6 Kommentare

  1. Pingback:Lasst die Kinder mit den Fingern rechnen! - The Content Society

  2. Birgit Buchmayer

    Liebe Sabine,
    Ich kann deinen Ansatz gut verstehen und auch nachvollziehen. Klar, die Finger sind praktisch und immer dabei. Sicherlich kann es für den Anfang sinnvoll sein, sich anhand der Finger die Zahlen vorzustellen.
    Was mir jedoch fehlt und das wird meines Wissens zu wenig gelehrt oder auch zu kurz angesprochen ist die Zahlzerlegung.
    Die Kinder sollten lernen, wie sich die einzelnen Zahlen zusammensetzen.
    Beispiel: die sieben. Sie setzt sich aus 6+1, 5+2, 3+4 usw. zusammen. Wenn dieses System klar ist, dann ist der Zehnerübertrag einfach und das Minusrechnen auch.
    Das sollte doch das Ziel von gutem Unterricht sein. Wenn dann noch die Schüler in ihrem eigenen Tempo lernen durfen, dann umso besser.
    So stelle ich mir jedenfalls Schule vor.
    Lieben Gruß, Birgit

    • Sabine Landua

      Hallo Birgit, das sehe ich ganz genauso. Die Zahlzerlegung ist eines der wichtigsten Bereiche beim Lernen im mathematischen Anfangsunterricht. Mir ging es im Artikel lediglich darum, dass an vielen Schulen die Finger als Anschauungsmittel verboten werden. Dabei sind sie ein Anschauungsmittel wie jedes andere auch und dieses sollte so lange genutzt werden, wie die Kinder die Anschauung benötigen. Auch jedes andere Darstellungsmittel kann zum zählenden Rechnen verleiten, was es zu verhindern gilt. Deshalb pauschal die Finger zu verbieten, ist nicht angemessen.

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  4. Anita Griebl

    Liebe Sabine, danke für den anschaulichen und informativen Artikel. Jetzt verstehe ich meine anfänglichen Schwierigkeiten in meiner frühen Schulzeit. Noch dazu das Umlernen von links nach rechts, macht viele Probleme.

    Ich ertappe mich heute noch, dass ich manchmal die Finger zum Zählen verwende.

    Ich wünsche dir viel Freude und Erfolg bei deinem wertvollen Wirken.

    Herzliche Grüße von Anita ❤️🙋🏼‍♀️

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