Wieder ist die Zeit gekommen… Das 2. Halbjahr hat begonnen und traditionell ist es die Zeit der Diskussion über das Rechnen mit den Fingern. Wird es zu Beginn der 1. Klasse toleriert und teilweise sogar gefördert, sind viele Lehrkräfte der Meinung, dass die Finger zu Beginn des 2. Halbjahres überflüssig werden und es jetzt an der Zeit sei, dass die Kinder ohne die Finger rechnen sollten. Immer wieder kommen zu dieser Zeit Anfragen von besorgten Eltern, deren Kinder in der Schule jetzt die Finger verboten wurden. Sie berichten, dass ihre Kinder die Finger trotzdem, aber jetzt eben heimlich, benutzen. Diese Aussagen kenne ich sehr gut und ich muss sagen, dass ich in meiner Zeit als Lehrerin das Rechnen mit den Fingern ebenfalls kritisch gesehen habe. Heute, als Lerntherapeutin, sehe ich das anders: Lasst die Kinder mit den Fingern rechnen, aber zeigt ihnen, wie es richtig geht!
Ein kleines Experiment zum Einstieg
Bevor es richtig losgeht, möchte ich dich zu einem kleinen Experiment einladen:
- Nenne einmal genau 6 Obstsorten.
- Heute ist der 23.11.24. Wenn du am 23.04.25 in Osterurlaub fährst, wie lange dauert es noch bis dahin?
Und wie hat es geklappt? Hast du (wie ich) die Finger zur Hilfe genommen, um sicher zu sein, dass du auch genau 6 Obstsorten aufgezählt hast? Oder hast du die Monate bis zum Osterurlaub mit den Fingern nachgezählt? Falls ja, ist das überhaupt kein Problem! Hier zeigt sich, dass das Zählen mit den Fingern tief in uns verwurzelt ist und auch von Erwachsenen, die eigentlich schon kompetente Rechner sind, trotzdem noch als Hilfsmittel angewandt werden.
Warum die Finger ein tolles Darstellungsmittel sind
Beim Rechnenlernen sind wir auf das Verständnis der dahinter liegenden Handlung angewiesen. Wir müssen verstehen, wofür die Zahlen stehen, mit denen wir rechnen sollen. Dazu ist es hilfreich, abstrakte Rechnungen mit Anschauungsmitteln zu verdeutlichen. 5 + 2 = 7 kann z.B. durch reale Gegenstände, wie z.B. 5 Spielzeugautos dargestellt werden, zu denen noch 2 Autos hinzukommen. Die Aufgabe kann aber auch durch Muggelsteine, Wendeplättchen oder Sprünge auf dem Zahlenstrahl dargestellt werden. Auch mit den Fingern lässt sich die Aufgabe veranschaulichen: Zu den 5 Fingern der einen Hand kommen noch 2 Finger an der anderen Hand. Zusammen sind es 7 Finger.
Die Finger sind im Zahlenraum 10 ein perfektes Darstellungsmittel, das wir kostenlos verwenden können und zudem immer dabei haben. Anders als mathematisches Material, wie z.B. Wendeplättchen, sind sie den jungen Lernern vertraut und werden seit dem Kindergartenalter zum Darstellen von Anzahlen verwendet. Auf die Frage „Wie alt bist du?“ zeigen jüngere Kinder häufig die Anzahl der Jahre mit den Fingern. Darüber hinaus handelt es sich bei den Fingern von Natur aus um strukturiertes Material, nämlich eine Hand mit jeweils 5 Fingern. Die Einsicht in diese Strukturierung wird später das Rechnenlernen unterstützen. Anders als bei Wendeplättchen z.B. muss diese Strukturierung bei Verwendung der Finger nicht künstlich hergestellt werden.
Warum wird das Rechnen mit den Fingern dann mit Schuleintritt so kontrovers betrachtet und wird spätestens mit Ende der 1. Klasse vielerorts verboten?
Warum ist das Fingerrechnen vielerorts verpönt?
Meiner Meinung hat das damit zu tun, dass die Finger als Darstellungsmittel in vielen Schulen nicht richtig eingesetzt werden. Oft sehe ich Kinder, die zwar die eine Zahl mit den Fingern spontan darstellen können, die zweite Zahl aber zählend hinzufügen. Aus 5 + 2 wird dann von 5 zweimal weitergezählt und jeweils ein Finger hinzugefügt: 6, 7. Dies kann das zählende Rechnen verfestigen und schließlich verhindern, dass Schülerinnen und Schüler die Addition als das Zusammenfügen von Mengen oder die Subtraktion als das Wegnehmen von Teilmengen verstehen.
Zählendes Rechnen ist bei vielen Schülern mit Rechenschwierigkeiten weitverbreitet. Fingerrechnen wird häufig mit zählendem Rechnen gleichgesetzte und als unreife Rechenstrategie abgelehnt. Viele Lehrkräfte wissen sich irgendwann keine Hilfe mehr und verbieten den Einsatz der Finger (weil sie ja zählendes Rechnen unterbinden wollen). In der Folge nutzen viele Kinder die Finger verdeckt unter dem Tisch oder haben andere „unsichtbare“ Strategien entwickelt, wie z.B. das leichte Tippen der Finger auf dem Tisch. Das Problem des zählenden Rechnens löst sich so nicht und führt Kinder nur in das Dilemma, dass sie etwas „Verbotenes“ tun.
Studien liefern Fakten für gute Argumente
Krenger & Thevenot (2024) zeigen, dass Kinder im Vorschulalter, die die Finger zum Rechnen verwenden, zu jedem Messzeitpunkt bessere Leistungen erzielen, als Kinder, die die Finger nicht verwenden. Sie verfügen außerdem über mehr Zählprinzipien und damit über wichtige Vorläuferfertigkeiten für das spätere Rechnen.
Jordan et al. (2008) zeigen in einer Längsschnittstudie vom Kindergarten bis zur 2. Klasse, dass Kinder, die die Finger zum Rechnen verwenden, bis Ende der 1. Klasse und sogar teilweise noch bis zur Mitte der 2. Klasse bessere Leistungen erzielen. Erst wenn sie dann weiterhin noch mit den Fingern rechnen, erzielen sie schlechtere Leistungen.
Björklund et al. (2019) beschäftigten sich damit, ob es Unterschiede in den Leistungen gibt, je nachdem, wie die Finger eingesetzt werden. Hier unterscheiden sie
- das statische Fingerrechnen, d.h. eine Fingermenge wird strukturiert, also auf einen Sitz gezeigt, z.B. 7 mit 5 Fingern der einen Hand und 2 Fingern der anderen Hand.
- das dynamische Fingerrechnen, d.h. die Finger werden einzeln zählend hinzugefügt, also bei 7 werden nacheinander die Finger der einen und anderen Hand ausgestreckt.
- das Verwenden einer Mix-Strategie aus statischem und dynamischen Fingerrechnen.
Das Ergebnis ihrer Stichprobe zeigte, dass Kinder, die statisch mit den Fingern gerechnet hatten, zu ca. 80% die Aufgabe richtig lösen konnten. Beim Einsatz des dynamischen Fingerrechnens waren 0% korrekt und beim Einsatz der Mix-Strategie wiederum ca. 85% der Lösungen korrekt angegeben.
Wie kann das Rechnen mit den Fingern gelingen?
Zunächst einmal spricht nichts dagegen – auch noch nicht zu Beginn der 2. Klasse, dass Kinder die Finger als Anschauungsmittel einsetzen. Auch das dynamische Fingerrechnen, also das Abzählen, ist zu Beginn der Entwicklung nicht hinderlich.
Werden die Finger als Anschauungsmittel verwendet, um Mengen darzustellen, ist es wichtig, dass sie nicht zählend, sondern als statisches Fingerbild eingesetzt werden, d.h. 4 wird nicht hochgezählt, 1 Finger, 2 Finger, 3 Finger, 4 Finger, sondern die 4 Finger werden spontan gezeigt. Dabei ist es egal, mit welcher Hand die Menge gezeigt wird. Kinder werden dazu spontan ihre dominante Hand verwenden. Da unsere Finger von Natur aus in zwei 5er-Päckchen geordnet sind, können so Zahlen als Zusammensetzungen und Zerlegungen erfahren werden. 7 wird dargestellt durch eine ganze Hand mit 5 Fingern und noch 2 weiteren Fingern der anderen Hand. Nachdenken über das Fingerbild ermöglicht Einsicht in die dahinterliegenden Zusammenhänge. Kinder erfahren, dass Zahlen aus Teilen zusammengesetzt werden können. Das Teile-Ganzes-Prinzip ist eine wesentliche Voraussetzung für späteres gelingendes Rechnen.
Die didaktische Kunst ist es nun, die Finger als Hilfsmittel zuzulassen, dabei aber Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken über die Zahldarstellungen anzuregen, damit diese Bilder verinnerlicht werden können. Diese mentalen Zahlrepräsentationen müssen dann mit arithmetischem Verständnis verknüpft werden, damit die Finger (oder jegliches anderes Anschauungsmaterial) nicht zählend verwendet werden.

Wie lange ist das Rechnen mit den Fingern erlaubt?
So lange wie nötig! Es ist fahrlässig, Anfang des zweiten Halbjahres der 1. Klasse auf einmal das Rechnen mit den Fingern zu verbieten. Denn Kindern, die die Finger als Anschauungsmittel verwenden, fehlt noch die innere Vorstellung. Sie können noch nicht ohne Anschauungsmittel mit den Zahlen operieren.
Statt die Finger zu verbieten, müsste daran gearbeitet werden, dass die Schülerinnen und Schüler innere Bilder entwickeln. Dies geht am besten schrittweise, indem zunächst Handlungen mit den Fingern verdeckt ausgeführt werden. So kann die Aufgabe 5 + 2, z.B. mit den Fingern unter dem Tisch gezeigt werden. Wichtig ist es, die Kinder zur Versprachlichung anzuregen. Während die Aufgabe also unter dem Tisch gezeigt wird, sollte das Kind dazu sprechen: „Ich nehme eine ganze Hand und füge dann noch zwei Finger der anderen Hand dazu. Jetzt habe ich sieben.“ Mit zunehmender Übung können diese Handlungen auch nur in der Vorstellung durchgeführt werden. So gelangen die Schülerinnen und Schüler zu stabilen inneren Vorstellungen, die die konkreten Anschauungsmittel mehr und mehr überflüssig werden lassen. So muss keinem Kind der Einsatz der Finger verboten werden, da sich die Schülerinnen und Schüler ganz von allein davon lösen.
weiterführende Literatur:
- Björklund et al. (2019). Preschoolers’ different ways of structuring part-part-whole relations with finger patterns when solving an arithmetic task, DOI:10.1007/s11858-019-01119-8
- Krenger & Thevenot (2024). The use of fingers in addition: A longitudinal study in children from preschool to kindergarten, DOI:10.1016/j.cogdev.2024.101431
- Lorenz, J.-H. (2015). Fingerrechnen: Aspekte aus didaktischer Sicht, in: Lernen und Lernstörungen, 4 (3), Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern, https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/2235-0977/a000107
- Roesch / Moeller (2024). Finger counting, finger number gesturing and basic numerical skills: A cross-sectional study in 3-5 years olds, https://doi.org/10.1016/j.jecp.2024.105892
- Werner, B. (2012). Fingerrechnen (neu)verstehen, (wieder)entdecken, Lern. Lernstörungen 1 (1), Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern, DOI: 10.1024/2235-0977/a000006
Wirklich wichtiger Artikel, liebe Sabine. Mein Lieblingsbeispiel ist meine Impfärztin im Impfzentrum, die schnell auf ihre Finger schaute, um sicherzugehen, wie lange meine letzte Impfung her ist.
Erlaubt ist, was hilft, aber bitte bitte nicht hochzählen 👍🏼
Das ist ein tolles Beispiel! Ich bin ganz deiner Meinung!
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Liebe Sabine,
Ich kann deinen Ansatz gut verstehen und auch nachvollziehen. Klar, die Finger sind praktisch und immer dabei. Sicherlich kann es für den Anfang sinnvoll sein, sich anhand der Finger die Zahlen vorzustellen.
Was mir jedoch fehlt und das wird meines Wissens zu wenig gelehrt oder auch zu kurz angesprochen ist die Zahlzerlegung.
Die Kinder sollten lernen, wie sich die einzelnen Zahlen zusammensetzen.
Beispiel: die sieben. Sie setzt sich aus 6+1, 5+2, 3+4 usw. zusammen. Wenn dieses System klar ist, dann ist der Zehnerübertrag einfach und das Minusrechnen auch.
Das sollte doch das Ziel von gutem Unterricht sein. Wenn dann noch die Schüler in ihrem eigenen Tempo lernen durfen, dann umso besser.
So stelle ich mir jedenfalls Schule vor.
Lieben Gruß, Birgit
Hallo Birgit, das sehe ich ganz genauso. Die Zahlzerlegung ist eines der wichtigsten Bereiche beim Lernen im mathematischen Anfangsunterricht. Mir ging es im Artikel lediglich darum, dass an vielen Schulen die Finger als Anschauungsmittel verboten werden. Dabei sind sie ein Anschauungsmittel wie jedes andere auch und dieses sollte so lange genutzt werden, wie die Kinder die Anschauung benötigen. Auch jedes andere Darstellungsmittel kann zum zählenden Rechnen verleiten, was es zu verhindern gilt. Deshalb pauschal die Finger zu verbieten, ist nicht angemessen.
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Liebe Sabine, danke für den anschaulichen und informativen Artikel. Jetzt verstehe ich meine anfänglichen Schwierigkeiten in meiner frühen Schulzeit. Noch dazu das Umlernen von links nach rechts, macht viele Probleme.
Ich ertappe mich heute noch, dass ich manchmal die Finger zum Zählen verwende.
Ich wünsche dir viel Freude und Erfolg bei deinem wertvollen Wirken.
Herzliche Grüße von Anita ❤️🙋🏼♀️
Vielen Dank für deinen lieben Kommentar, Anita! Und ja: umgeschulte Linkshändigkeit kann eine Reihe von Problemen verursachen… Das wäre auch mal einen Blogartikel wert 😊