Eltern merken in der Regel sehr früh, wenn etwas in der Entwicklung ihres Kindes nicht so verläuft, wie sie es erwarten würden. Wenn das Lesen und Schreiben nicht so klappt, wie es sollte, wenden sie sich in der Regel an die Lehrkraft ihres Kindes. Oft hören sie dann, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, dass das Kind noch Zeit hätte sich zu entwickeln und man erstmal abwarten sollte. Leider sind dies weit verbreitete Mythen, die sich auch im schulischen Umfeld hartnäckig halten: Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten „wachsen“ sich nicht aus! Auch das Missverständnis, dass eine Lerntherapie erst nach einer offiziellen Diagnostik durch einen Kinder- und Jugendpsychologen starten kann, begegnet mir häufig. Warum das nicht der Fall ist und Lerntherapeutinnen bereits frühzeitig eine wertvolle Unterstützungsarbeit leisten können, zeige ich dir in diesem Blogartikel.
Warum frühzeitige Unterstützung so wichtig ist
Kinder mit einer Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) oder Rechenschwäche erleben frühzeitig, dass sie die gestellten Anforderungen nicht erfüllen können. Schule und Lernen sind für sie mühsam und mit Misserfolgserlebnissen verknüpft. Erhalten diese Kinder keine passgenaue Unterstützung und wird dieser Kreislauf nicht frühzeitig unterbrochen, wachsen sie zu Jugendlichen heran, die zunehmend weniger an sich glauben und schließlich aufgeben. Die vielen Misserfolgserlebnisse zehren an ihrem Selbstwert: „Ich bin zu dumm für Mathe“, „Üben bringt nichts, ich kann das eh nicht“. Sie befinden sich in einer Negativspirale, die bei manchen Jugendlichen schließlich zu Schulangst oder Schulverweigerung führt.
Frühzeitige Unterstützung kann dem entgegenwirken. Werden die Schwierigkeiten erkannt, kann eine passgenaue Förderung helfen, Lücken zu schließen und eine tragfähige Basis für das Weiterlernen zu schaffen. Hier herrscht oft der Irrglaube vor, dass eine Unterstützung nur mit einer entsprechenden (formellen) Diagnose möglich ist. Für die Aufnahme in eine Lerntherapie ist dies jedoch keine Voraussetzung. Lerntherapeutinnen führen zu Beginn der Lerntherapie in der Regel selbst eine formelle oder informelle Diagnostik durch. Diese pädagogische Diagnostik gibt Aufschluss über den Leistungsstand und die Förderschwerpunkte des Kindes oder Jugendlichen und stellt die Grundlage für die anschließende Förderplanung dar.
Warum warten Eltern und Lehrkräfte häufig eine Diagnose ab?
- Sicherheit und Klarheit über vermutete Lernschwierigkeiten
Eltern und Lehrkräfte möchten sicher sein, dass sie mit ihrer Vermutung nicht falschliegen und es sich nicht um eine vorübergehende Schwäche handelt. Auch eine andere Ursache, wie z.B. allgemeine Konzentrationsprobleme oder emotionale Belastungen, sollen so ausgeschlossen werden. Mit einer Diagnose erhalten Eltern und Lehrkräfte eine offizielle Bestätigung, die helfen kann, die Unsicherheiten zu reduzieren. - Erleichterter Zugang zu Förderung und Nachteilsausgleich
Viele Schulen knüpfen die Gewährung eines Nachteilsausgleichs an eine offizielle Diagnose, obwohl dies schulrechtlich häufig gar nicht gefordert ist. Ohne eine Diagnose könnte das Kind so nicht die schulische Unterstützung erhalten, die es eigentlich braucht. - Die Diagnose ermöglicht in manchen Fällen die Kostenübernahme für eine Lerntherapie
Eine Lerntherapie ist in der Regel eine Selbstzahlerleistung und mit monatlichen Kosten über einen langen Zeitraum verbunden. Dies stellt viele Eltern vor große Herausforderungen. Eine Kostenübernahme z.B. über Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII oder das Bildungs- und Teilhabepaket ist jedoch nur nach Vorliegen einer offiziellen Diagnose möglich. - Orientierung an Empfehlungen von Fachpersonen
Eltern verlassen sich häufig auf die Meinung von Lehrkräften, Schulpsychologen oder Kinderärzten, die häufig eine Diagnostik empfehlen. - Gesellschaftliche und psychologische Faktoren
Eltern möchten nicht vorschnell als „überbesorgt“ gelten. Eine Diagnostik bietet eine offizielle Bestätigung, dass ihr „Bauchgefühl“ richtig war. Lehrkräfte haben begrenzte Ressourcen und orientieren sich oft an formalen Diagnosen, um zu entscheiden, welche Kinder besondere Unterstützung erhalten. - Hoffnung auf Besserung ohne spezielle Förderung
Manche Eltern hoffen darauf, dass sich die Schwierigkeiten doch noch von selbst auflösen und eine zeit- und kostenintensive Lerntherapie nicht nötig ist.
Warum eine Diagnose hilfreich, aber nicht immer notwendig ist
Die Diagnostik durch den Kinder- und Jugendpsychologen führt am Ende zur Bestätigung oder zum Ausschluss einer Lernstörung. Sie gibt keine Auskunft darüber, in welchen Lernbereichen das Kind oder der Jugendliche Förderung benötigt und kann damit nur bedingt als Grundlage für die Förderplanung verwendet werden. Dennoch bietet die offizielle Diagnose einer LRS oder Rechenschwäche einige Vorteile.
Eine offizielle Diagnose bietet Klarheit gegenüber dem vorher diffusen „Bauchgefühl“. Diese Klarheit erleichtert auch die Kommunikation mit den Lehrkräften und ermöglicht vielerorts einen vereinfachten Zugang zu schulischen Unterstützungsmöglichkeiten und Nachteilsausgleich. Besonders im Hinblick auf eine Unterstützung in einer späteren Berufsausbildung oder im Studium ist eine Diagnose hilfreich. Auch eine eventuelle Kostenübernahme der Lerntherapie durch offizielle Stellen, wie die wirtschaftliche Jugendhilfe (Jugendamt) oder das Jobcenter (Bildungs- und Teilhabepaket), ist nur mit einem ärztlichen Gutachten möglich.
Ein weiterer wichtiger Vorteil liegt für mich in der Bedeutung für das Kind oder den Jugendlichen. Viele meiner Schüler kommen in der ersten Stunde mit wenig Selbstvertrauen, oft etwas niedergeschlagen und können klar benennen, was sie alles nicht können (aber nicht, was ihre Stärken sind). Meist führen sie das darauf zurück, dass sie kein Talent haben, einfach nicht richtig schreiben können – egal wie viel sie üben oder zu dumm für Mathe sind. Diese negativen Glaubenssätze haben sich oft schon tief eingeprägt und ihren Selbstwert erniedrigt. Eine offizielle Diagnose LRS oder Rechenschwäche kann viele Schüler deutlich entlasten. Sie verstehen besser, warum sie Schwierigkeiten haben und dass es nicht daran liegt, dass sie zu wenig geübt haben oder einfach kein Talent haben. Die Diagnose kann helfen, das Selbstwertgefühl zu schützen, weil das Kind merkt: „Ich bin nicht dumm, ich lerne nur anders.“
Auf Termine für eine Diagnostik durch den Kinder- und Jugendpsychologen müssen Eltern vielerorts im Moment mindestens ein halbes Jahr, manchmal auch länger, warten. Durch das Warten auf eine Diagnose geht damit wichtige Zeit für eine mögliche Förderung verloren.
Wie Lerntherapie ohne offizielle Diagnose beginnen kann
Eine Diagnose durch einen Kinder- und Jugendpsychologen bestätigt eine LRS oder Rechenschwäche, bietet aber nur wenig Hinweise auf eine mögliche Förderplanung. Für den Start einer Lerntherapie ist sie daher nur dann notwendig, wenn die Kosten der Therapie von offiziellen Stellen übernommen werden sollen. Wird die Lerntherapie selbst finanziert, ist es daher günstig, so früh wie möglich zu starten. Was sind hier die ersten Schritte?
In der Regel beginnt die Lerntherapie mit einem ersten Beratungsgespräch. In diesem wird gemeinsam erörtert, ob eine Lerntherapie die richtige Maßnahme für das Kind sein kann oder ob andere Unterstützungsmaßnahmen vorrangig angegangen werden sollten. Bestehen noch Unklarheiten, biete ich den Eltern eine pädagogische Diagnostik vor der Entscheidung für eine Lerntherapie an. Dies hat den Vorteil, dass vor Beginn der Lerntherapie klar ist, welche die Förderschwerpunkte sein werden und ob die Lerntherapie hier die richtige Maßnahme ist. Außerdem können wir in der Lerntherapie dann direkt mit der Förderung beginnen und verlieren keine weitere Zeit. Zusätzlich erhalten die Eltern einen ausführlichen Bericht über den ermittelten Lernstand und mögliche Fördermaßnahmen.
Du interessierst dich für eine pädagogische Diagnostik? Dann melde dich gerne bei mir!
Ist bereits klar, dass eine Lerntherapie die richtige Maßnahme ist, kann die Diagnostik auch in den ersten Stunden der Lerntherapie erfolgen. Dies hat den Vorteil, dass wir langsamer vorgehen und uns erstmal kennenlernen können.
In beiden Fällen verschaffe ich mir durch Beobachtungen und Gespräche und durch formelle Tests einen Überblick über die Stärken und Lernschwierigkeiten des jeweiligen Kindes oder Jugendlichen. Auch befrage ich die Eltern noch einmal zur bisherigen Entwicklung ihres Kindes. Dies gibt oft wichtige Hinweise zur Einordnung meiner Beobachtungen und der Testergebnisse. Auf dieser Grundlage plane ich die Förderung und halte die Testergebnisse und die Förderschwerpunkte in einem Förderplan fest.
Anschließend bespreche ich mit den Eltern die Ergebnisse und die von mir festgelegten Förderschwerpunkte. Wir überlegen gemeinsam, ob dies der richtige Weg für das Kind ist. Ist der Auftrag klar, kann die Förderung beginnen. Wie eine mögliche Lerntherapie-Stunde vor Ort oder online ablaufen kann, kannst du in meinem Blogartikel nachlesen.
Mein Fazit
Eine Lerntherapie ist eine flexible und individuelle Hilfe, die nicht von einer Diagnose durch einen Kinder- und Jugendpsychologen abhängig ist. Das Warten auf einen Termin für eine Diagnose kann dauern und dadurch den Druck auf dein Kind unnötig erhöhen. Je früher Lernschwierigkeiten aufgearbeitet werden, desto besser ist es. Statt daher lange auf eine Diagnose zu warten, ist es sinnvoll, frühzeitig mit Lerntherapeutinnen ins Gespräch zu kommen. Sie können beraten, wenn unklar ist, ob eine Lerntherapie eine geeignete Maßnahme ist und eine Förderung auf der Grundlage ihrer professionellen Einschätzung durchführen. Eine Diagnostik durch einen Kinder- und Jugendpsychologen kann im Anschluss dennoch hilfreich sein, um dein Kind zu entlasten und mit bestehenden Schwierigkeiten besser umgehen zu können.
Möchtest du dich individuell beraten oder eine pädagogische Diagnostik durchführen lassen, um besser einschätzen zu können, welche Maßnahmen deinem Kind helfen könnten? Dann melde dich gerne bei mir.
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