Dein Kind kämpft mit Mathe, obwohl es sich so sehr bemüht? Oder du unterrichtest eine Klasse, in der einige Kinder einfach nicht mitkommen – obwohl du alles versuchst? Vielleicht ist das Mathe-Lehrwerk das Problem!
Ein gutes Mathebuch baut auf den Vorerfahrungen der Kinder auf und bietet entsprechendes Anschauungsmaterial, um alle Schüler abholen zu können. Kinder haben bereits vor Schulbeginn unterschiedliche vorschulische (Lern-)Erfahrungen gesammelt, die sie in die 1. Klasse mitbringen. Das Lernen in der Schule beginnt damit nicht bei null, sondern trifft auf viele unterschiedliche Vorerfahrungen. Ein gutes Lehrwerk trägt dem Rechnung und setzt an diesen Vorerfahrungen an. Besonders für Kinder mit Lernschwierigkeiten ist dies entscheidend. Werden sie nicht dort abgeholt, wo sie gerade stehen, werden diese Kinder bereits zu Beginn des ersten Schuljahres abgehängt und können dem Unterricht nicht mehr folgen.
In diesem Blogartikel zeige ich dir, wie ein gutes Mathe-Lehrwerk aussieht (mit Checkliste zum Download!), welche Stolpersteine in vielen Schulbüchern lauern und was du tun kannst, wenn du mit einem schlechten Lehrwerk arbeiten musst.
Was ist eine Rechenschwäche?
Eine Rechenschwäche (Dyskalkulie) liegt vor, wenn Kinder grundlegende mathematische Basiskompetenzen nicht sicher beherrschen, wie etwa das Zählen, Mengenvergleiche oder das Zerlegen von Zahlen. Fehlen diese Grundlagen oder sind diese noch nicht sicher ausgebildet, fehlt das Fundament für den Aufbau weiteren mathematischen Wissens und das Kind entwickelt eine Rechenschwäche. Ohne frühzeitige Unterstützung, bleiben die Schwierigkeiten bei 75- bis 95 % der Personen bis ins Erwachsenenalter bestehen. Viele Eltern denken dann „Mein Kind ist einfach nicht gut in Mathe.“ Doch oft liegt es daran, dass kein optimaler Unterricht stattfindet, weil das Lehrwerk zu schnell, zu unanschaulich oder nicht entwicklungsgerecht aufgebaut ist.
Kann ein Lehrwerk eine Hürde beim Lernen darstellen?
Lernschwierigkeiten, wie auch eine Rechenschwäche, entstehen in der Regel aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Kind- und umweltbezogene Faktoren können dabei sowohl Schutz- als auch Risikofaktoren sein. Bringt ein Kind also schlechtere Voraussetzungen für das Lernen mit und trifft dann auf einen Unterricht, der durch ein schlechtes Mathebuch nicht sinnvoll aufeinander aufbaut, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass das Kind eine Rechenschwäche entwickelt. Trifft es dagegen bei den gleichen schlechten Voraussetzungen auf eine Lehrkraft, die mithilfe eines guten Mathebuchs gut strukturierten Unterricht anbietet, ist die Wahrscheinlichkeit, eine Rechenschwäche auszubilden, wesentlich geringer.
Stell dir vor, ein Kind kommt in die 1. Klasse und soll im Zahlenraum bis 20 rechnen, obwohl es noch nicht sicher zählen kann. Ein gutes Lehrwerk holt dieses Kind ab und bietet entsprechende Übungen an. Ein schlechtes setzt diese Fähigkeiten einfach voraus und überfordert damit bis zu 50 % der Schulanfänger.
Da die unterrichtliche Versorgung derzeit an allen Schulen alles andere als optimal ist, kommt dem Lehrwerk eine besondere Bedeutung zu. Lehrkräfte, die fachfremd (vielleicht haben sie Deutsch studiert), schulartfremd (vielleicht sind sie vom Gymnasium abgeordnet für den Unterricht an der Grundschule) oder als Quer- oder Seiteneinsteiger unterrichten, orientieren sich in ihrer Unterrichtsplanung besonders stark am Lehrwerk und den entsprechenden Materialien.
Wie sieht ein gutes Mathematik-Lehrwerk aus?
Entwicklungsorientierung
Prüfe: Beginnt das Lehrwerk mit dem Zählen von Dingen und einfachen Mengenunterscheidungen (was ist mehr / weniger) oder beginnt es gleich mit dem Schreiben von Ziffern, ohne dass ein Bezug zur Menge hergestellt wird?
Ein gutes Lehrwerk sollte entwicklungsorientiert aufgebaut sein. Mathematische Basiskompetenzen entwickeln sich in Stufen, und diese Stufen müssen im Lehrbuch sinnvoll durchlaufen werden. Auch muss berücksichtigt werden, mit welchen mathematischen Vorkenntnissen die Kinder in die Schule kommen.
Häufig setzen Erstklasslehrwerke zu hoch an und gehen davon aus, dass die mathematischen Basiskompetenzen bereits vorschulisch erworben wurden. Dies ist jedoch meist nicht der Fall. Von den drei Entwicklungsstufen (nach Krajewski, 2013) haben nur 50 % der Schulanfänger die Stufe 2 bereits erworben. Stufe 3 (relationaler Zahlbegriff) wird dagegen von vielen Kindern erst Ende der 1. bzw. Anfang der 2. Klasse erreicht. Ein gutes Lehrwerk sollte dies berücksichtigen und die Basiskompetenzen gezielt mit aufbauen.
Das Haus des Rechnens von Petra Küspert zeigt, wie die verschiedenen Stufen aufeinander aufbauen. Deutlich wird hier, dass ohne stabile Basiskompetenzen (Erdgeschoss) weiteres mathematisches Wissen nicht sicher aufgebaut werden kann, weil dann das Haus „einstürzt“. Manche Schüler können eine gewisse Zeit (manchmal auch bis ins 4. Schuljahr) kompensieren, dass ihr mathematisches Fundament löchrig ist, doch irgendwann gelingt das nicht mehr und dann steht auf einmal der Verdacht auf Rechenschwäche im Raum.

Darstellungsmittel
Achte darauf: Werden Mengen klar und ohne Ablenkung dargestellt? Zum Beispiel sollten Größenverhältnisse passen und eine Menge aus 4 Kreise doppelt so groß wirken wie eine aus 2 Kreisen – nicht gleich groß und bunt durcheinander. So bleibt das Größenverhältnis erkennbar und Kinder können Zahlenräume visuell begreifen.
Anschauungsmaterialien sollten nicht nur die mathematischen Inhalte veranschaulichen, sondern auch als Kommunikationsmittel über mathematische Konzepte dienen. Gute Darstellungsmittel helfen Kindern dabei, wichtige Aspekte von Zahlen zu erfassen und ein echtes Verständnis für Mengen und Zahlenräume aufzubauen. Wenn z.B. Mengen und Zahlen anschaulich miteinander verknüpft werden, kann ein tiefes Zahlenverständnis entstehen.
Wichtig ist auch, dass Darstellungsmittel einfach und ohne unnötige Details gestaltet sind. Viele unterschiedliche Farben oder Formen können von den wesentlichen Informationen ablenken und das Arbeitsgedächtnis überfordern. Klare, schlichte Materialien entlasten hingegen und unterstützen das Lernen.
Für größere Mengen, wie etwa ab fünf Elementen, ist es sinnvoll, das Prinzip der Kraft der Fünf zu berücksichtigen. Wenn Kinder Mengen auf einen Blick (quasi-simultan) erkennen, lernen sie schneller, ohne zählen vorzugehen. Das reduziert die Gefahr, später durch zählendes Rechnen Schwierigkeiten zu bekommen.
Versprachlichung
Frage dich: Regt das Mathebuch Kinder aktiv dazu an, laut zu erklären, wie sie gerechnet haben?
Das Sprechen über mathematische Inhalte hilft den Schülern, innere Bilder und Grundvorstellungen zu entwickeln – ein essenzieller Schritt, um nachhaltiges mathematisches Verständnis zu fördern.
Mathematische Sprache unterscheidet sich deutlich von unserer Alltagssprache. Kinder brauchen daher gezielte Unterstützung, um die Begriffe richtig zu verstehen. Ein gutes Lehrwerk führt deshalb wichtige mathematische Begriffe ein und nutzt Darstellungsmittel, um diese anschaulich zu erklären.
Das Verständnis für mathematische Konzepte entsteht nicht automatisch; deshalb ist es wichtig, dass Kinder lernen, ihre mathematischen Handlungen in Worte zu fassen. Indem Lehrwerke die Schüler aktiv zum Sprechen über Zahlen und deren Strukturen anregen, wird das Nachdenken über die Mathematik gefördert und sie lenken die Aufmerksamkeit auf die wichtigen Inhalte. So können Kinder mathematische Konzepte bewusst wahrnehmen und ein tieferes Verständnis entwickeln.
Wiederholung
Checke: Werden Themen wie „Zahlen zerlegen“ regelmäßig wiederholt oder nur einmal behandelt und dann als „bekannt‘“vorausgesetzt?
Schüler mit Lernschwierigkeiten haben oft Mühe, Zusammenhänge zu erkennen und Fakten langfristig abzuspeichern. Eine eingeschränkte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses führt häufig dazu, dass sie langsamer lernen und mehr Wiederholungen brauchen, um ein stabiles Grundverständnis aufzubauen. Regelmäßige Wiederholungen sind besonders im Bereich der mathematischen Grundfähigkeiten wichtig, da sie dazu beitragen, basale Fertigkeiten zu automatisieren und das Faktenwissen zu festigen.
Ein gutes Mathematiklehrwerk greift deshalb die Inhalte nach dem Prinzip eines Spiralcurriculums immer wieder auf, sodass neu Gelerntes in Verbindung mit Vorwissen gefestigt wird. Indem die Schüler Zahlbeziehungen regelmäßig üben und als Stützpunkte nutzen, können sie mathematische Aufgaben zunehmend selbstsicher bewältigen.
Checkliste
Wenn du dein Lehrwerk jetzt prüfen willst, kannst du dir hier kostenlos meine Checkliste zum Erstklasslehrwerk herunterladen und gleich loslegen. In der Checkliste habe ich dir zu den oben beschriebenen Bereichen Fragen zusammengestellt, die dir bei der Beurteilung deines Schulbuches helfen sollen. So kannst du feststellen, ob dein Lehrwerk dazu beiträgt, dass deine Schüler grundlegende mathematische Kompetenzen aufbauen können.
Was tun, wenn nur ein schlechtes Lehrwerk zur Verfügung steht?
Ein erster Schritt ist immer, das vorhandene Lehrwerk anhand der oben beschriebenen Kriterien zu überprüfen und sich über mögliche Alternativen zu informieren. Nicht immer haben Lehrkräfte aber Einfluss auf die Wahl des Schulbuchs, das im Unterricht verwendet wird. Ein einmal eingeführtes Buch bleibt meist über Jahre im Einsatz, da eine Neueinführung häufig mit viel Arbeit verbunden ist. Manchmal fällt es da schwer, eigene Bedenken zu äußern.
Ist das Lehrwerk eingeführt und muss damit gearbeitet werden, sollten Lehrkräfte sensibel damit umgehen. Hast du bei der Überprüfung mögliche Stolpersteine identifiziert, die durch den didaktischen Aufbau des Lehrwerks entstehen, kannst du folgendermaßen vorgehen:
- Passe die Reihenfolge der Aufgaben an:
Manchmal macht es aus entwicklungspsychologischer Sicht Sinn, hier Änderungen vorzunehmen und Themen umzustellen. - Ergänze zusätzliche Übungen:
Jeder Lehrer verfügt über einen Fundus an Materialien. Sind in deinem Lehrwerk nicht ausreichend Übungen enthalten oder möchtest du Themen umstellen, so dass das Lehrwerk in Teilen nicht genutzt werden kann, kannst du mit zusätzlichen Übungen ergänzen. - Lass Übungen einfach weg:
Es macht wenig Sinn, ein Lehrwerk von vorn bis hinten durchzuarbeiten. So wie die Möglichkeit besteht, ergänzende Übungen hinzuzunehmen, kannst einzelne Übungen des Lehrwerks großzügig streichen, wenn diese Stolpersteine darstellen. - Reduziere die Darstellungsmittel:
Einige Lehrwerke enthalten eine Fülle von Darstellungsmitteln, die aber weder ausreichend eingeführt noch regelmäßig genutzt werden. Auch sind nicht alle Darstellungsmittel gleichermaßen geeignet. Auch hier kannst du großzügig streichen. Es lohnt sich, eine Auswahl zu treffen und sich auf wenige gute Darstellungsmittel zu beschränken. - Verschiebe den Fokus auf die hinter einer Rechnung liegenden Prozesse:
Vergleiche nicht nur die Ergebnisse, sondern stell in den Mittelpunkt, wie die Kinder zu ihren Ergebnissen gelangen. Auch Diskussionen über falsche Ergebnisse können hierbei sehr hilfreich sein.
Ein gutes Mathebuch macht den Unterschied – aber nicht allein
Ein gutes Mathematiklehrwerk kann dazu beitragen, Rechenschwäche vorzubeugen. Aber auch mit weniger guten Büchern lassen sich Lernerfolge erzielen, wenn Lehrkräfte und Eltern die Stärken und Schwächen des Materials erkennen und gezielt ergänzen. Ob durch das Umstellen von Themen, das Ergänzen optimaler Darstellungsmittel oder das Fördern von Versprachlichung – kleine Anpassungen können große Wirkung entfalten. Entscheidend ist, das Lehrwerk als flexibles Instrument zu begreifen und es an die individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder anzupassen. Meine kostenlose Checkliste zum Erstklasswerk unterstützt dich dabei, dein Schulbuch kritisch zu prüfen und sinnvoll zu ergänzen. So wird dein Lehrwerk zur Hilfe statt zur Hürde im Mathematikunterricht.
Du möchtest dich zum Thema Rechenschwäche beraten lassen? Du fragst dich, welche Unterstützung in der Schule oder zuhause möglich ist?
In einem Impuls-Gespräch zeige ich dir, wie du gezielt gegensteuern kannst: Jedes Kind kann Mathe verstehen – es braucht nur den richtigen Zugang!

Hier kannst du weiterlesen:
- Die Finger sind ein wunderbares Anschauungsmittel: Lasst die Kinder mit den Fingern rechnen!
- Startklar in Mathe – warum das vorschulische Wissen so wichtig ist (von Susanne Seyfried)
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