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Gleichheit oder Gerechtigkeit – der Nachteilsausgleich bei LRS und Rechenschwäche

Sabine Landua in ihrer Lerntherapiepraxis, Text: Gleichkeit oder Gerechtigkeit: Nachteilsausgleich bei LRS und Rechenschwäche

„Na klar ist das gerecht, wenn alle denselben Test schreiben!“ Eine typische Aussage zum Thema Gerechtigkeit in der Schule.
Was meinst du? Spontan würdest du vielleicht zustimmen, denn Gleichbehandlung scheint die Grundlage von Fairness zu sein. Doch wenn man genauer hinschaut, merkt man schnell: Nicht alle Kinder starten mit denselben Voraussetzungen und dann ist es auf einmal gar nicht mehr fair. Manche Kinder brauchen mehr Zeit, andere eine andere Form der Unterstützung, damit sie zeigen können, was wirklich in ihnen steckt.

Gerade Kinder mit einer Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) oder Rechenschwäche erleben im Schulalltag oft, dass gleiche Bedingungen sie benachteiligen. Sie müssen mehr Energie aufbringen und schaffen es oft nicht dasselbe Ziel zu erreichen. Das ist alles andere als gerecht.

In diesem Artikel geht es darum, warum Gerechtigkeit mehr bedeutet als Gleichheit, wie Schulen faire Lernbedingungen schaffen können und weshalb der Nachteilsausgleich keine „Bevorzugung“, sondern ein Ausdruck echter Bildungsgerechtigkeit ist.

Gerechtigkeit auf den Punkt gebracht

Gerechtigkeit heißt nicht, alle gleich zu behandeln, sondern Unterschiede wahrzunehmen und auszugleichen.
Der Nachteilsausgleich schafft faire Bedingungen für Kinder mit LRS oder Rechenschwäche.
Er ist kein Bonus oder eine Bevorzugung, sondern eine Unterstützung, damit jedes Kind zeigen kann, was wirklich in ihm steckt.
Gleichmacherei hilft niemandem – Empathie, Offenheit und Gespräche schon.
Eltern und Lehrkräfte können gemeinsam viel bewirken, wenn sie mutig ansprechen, was einzelne Kinder wirklich brauchen und vermeintliche Ungleichbehandlung zulassen.

Gleichheit vs. Gerechtigkeit – was ist der Unterschied?

Gleichheit

Alle Menschen sind gleich. Gleiche Rechte, gleiche Chancen, gleiche Bildung für alle – das sind wichtige gesellschaftliche Ziele. Doch Gleichheit bedeutet zunächst nur, dass alle gleich behandelt werden. Das klingt zunächst einmal fair, ist es aber nicht immer.

Ein schönes Beispiel liefert das Bilderbuch Wenn die Ziege schwimmen lernt. Nele Moost und Peter Kunstreich erzählen eine wunderbare Geschichte über Tiere, die gemeinsam die Schule besuchen. Alle Tiere sollen in der Schule natürlich das Gleiche lernen: schwimmen, klettern, fliegen und rennen. 

„Beim Klettern gab sich das Pferd gerade besonders viel Mühe. Es war nämlich schon beim Flugunterricht unangenehm aufgefallen. Im Fliegen hätte es beinahe eine Fünf bekommen und sollte jetzt Nachhilfeunterricht nehmen.“ 

aus: Wenn die Ziege schwimmen lernt. (Nele Moost, Peter Kunstreich)

Am Ende des Schuljahres ist keines der Tiere wirklich erfolgreich, denn niemand durfte zeigen, was er oder sie tatsächlich gut kann.

„Und als der Fisch zum achten Mal versuchte, sich mit dem Maul am Baum festzusaugen, und wieder der Länge nach auf die Erde plumpste, konnte der Lehrer nur noch mit den Achseln zucken. Dieser Schüler war ein hoffnungsloser Fall!“

aus: Wenn die Ziege schwimmen lernt. (Nele Moost, Peter Kunstreich)

Was wir in der Geschichte mit den Tieren als absurd erkennen, ist tatsächlich häufig der Alltag meiner Schüler mit LRS und Rechenschwäche. In der Schule wird Gleichheit großgeschrieben: Alle Schüler müssen die gleichen Aufgaben, zur gleichen Zeit unter denselben Bedingungen lösen – unabhängig davon, welche individuellen Stärken oder Herausforderungen sie mitbringen. Viele meiner Schüler bekommen so ihre Grenzen tagtäglich vor Augen geführt.

Skizze: Drei unterschiedlich große Kinder bekommen dieselbe Aufgabe - den Apfel pflücken
Gleichheit: Alle bekommen die gleiche Aufgabe, unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen.

Gerechtigkeit

Gerechtigkeit bedeutet vielmehr, Unterschiede wahrzunehmen und so auszugleichen, dass jedes Kind die Chance bekommt, sein Potenzial zu entfalten. Es geht also nicht darum, jemanden zu bevorzugen, sondern darum, faire Bedingungen zu schaffen. Denn gleiche Aufgaben können nur dann gerecht sein, wenn die Kinder unterschiedliche Wege und Hilfen nutzen dürfen, um sie zu bewältigen.

Die Wissenschaftler Harald Lesch und Klaus Zierer beschreiben in ihrem Buch Gute Bildung sieht anders aus drei Blickwinkel, unter denen man Gerechtigkeit in der Bildung verstehen kann:

  1. Anthropologische Bildungsgerechtigkeit
    Jeder Mensch hat das Recht, sich zu bilden. Bildung ist keine Frage von Herkunft, Begabung oder Zufall – sie ist ein Grundrecht. Ein gerechtes Bildungssystem darf also niemanden zurücklassen.
  2. Pädagogische Bildungsgerechtigkeit
    Kinder sind verschieden: in ihren Interessen, ihrem Lerntempo und ihren Stärken. Deshalb brauchen sie auch unterschiedliche Lernwege. Was dem einen leichtfällt, ist für den anderen eine große Hürde. Gerecht ist also nicht, wenn alle dasselbe bekommen, sondern wenn jedes Kind das bekommt, was es braucht, um gut lernen zu können.
  3. Soziale Bildungsgerechtigkeit
    Manche Kinder benötigen mehr Unterstützung als andere. Was auf den ersten Blick wie eine Bevorzugung wirken könnte, ist in Wahrheit ein Gewinn für alle: Frühzeitige Förderung, etwa in der Sprache, hilft nicht nur dem einzelnen Kind, sondern stärkt langfristig auch die Gesellschaft, weil Teilhabe und Mitwirkung besser gelingen. Gleiches gilt für die Förderung besonders begabter Kinder – auch sie tragen später mit ihren Fähigkeiten zum gemeinsamen Nutzen bei.

Gleichmacherei hingegen ist keine Lösung. Sie ignoriert die Unterschiede zwischen den Menschen. Gerechtigkeit bedeutet vielmehr, ungleich zu behandeln, wo es nötig ist und so echte Chancengleichheit zu schaffen.

Skizze: Drei unterschiedlich große Kinder wollen Äpfel pflücken. Dabei stehen die Figuren auf unterschiedlich hohen Kisten.
Gerechtigkeit: Jeder bekommt die Unterstützung, die er braucht um die Aufgabe lösen zu können.
CTA zum Eltern-Guide "Speak up - Nachteilsausgleich verstehen, ansprechen, gemeinsam umsetzen"

Was Gerechtigkeit in der Schule bedeutet

In Niedersachsen gibt es seit 2018 flächendeckend die inklusive Schule. Alle Kinder sollen gemeinsam lernen können, unabhängig von ihren individuellen Herausforderungen. Ein schöner Gedanke. In der Praxis kommt diese Inklusion aber oft an ihre Grenzen, wenn es um die Förderung von Schülern mit LRS oder Rechenschwäche geht. Da finden es Lehrkräfte auf einmal ungerecht, Schülern Unterstützung anzubieten, die sie vermeintlich gegenüber anderen bevorzugen. Lehrkräfte geraten dann manchmal in einen inneren Konflikt: Ist es gerecht, einem Kind mehr Zeit, spezielle Aufgabenformate oder zusätzliche Unterstützung zu geben, während andere diese Hilfen nicht bekommen?

Die Antwort lautet ganz klar: Ja, das ist gerecht. Denn gerechte Förderung bedeutet nicht Bevorzugung, sondern den Ausgleich von Nachteilen. Kinder starten nicht alle mit denselben Voraussetzungen ins Lernen. Manche brauchen eine Brille, andere ein Hörgerät und wieder andere gezielte Unterstützung beim Lesen, Schreiben oder Rechnen.

Eine pädagogische Haltung, die auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist, nimmt jedes Kind individuell wahr: mit seinen Stärken, Herausforderungen und seinem eigenen Lerntempo. So entsteht echte Chancengleichheit, nicht durch Gleichmacherei, sondern durch bewusst unterschiedliche Förderung. Diese Möglichkeit besteht für Lehrkräfte übrigens im Rahmen ihrer pädagogischen Freiheit, mit der sie ihren Unterricht entsprechend gestalten dürfen. Sie dürfen, sie müssen sogar differenziert unterrichten, damit alle Schüler entsprechend ihrer Fähigkeiten am Unterricht teilhaben können. 

Inklusion und Gerechtigkeit gehören also untrennbar zusammen. Nur wenn wir Kinder verschieden behandeln dürfen, können sie gemeinsam lernen und jeder hat die Möglichkeit, sein Potenzial zu entfalten.

Nachteilsausgleich als Instrument der Gerechtigkeit

Gerechtigkeit zeigt sich neben der pädagogischen Freiheit im Schulalltag ganz konkret durch den Nachteilsausgleich. Er sorgt dafür, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Beeinträchtigung faire Bedingungen beim Lernen und bei der Leistungsbewertung erhalten.

In allen Bundesländern gibt es Regelungen für Kinder mit Behinderungen, und auch für LRS sind Hilfen im Sinne eines Nachteilsausgleichs vorgesehen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Legasthenie als Behinderung einstuft, müssen viele dieser Vorgaben jedoch neu gedacht und angepasst werden. Noch sind die meisten Bundesländer nicht so weit. In Niedersachsen gilt der entsprechende Erlass zwar offiziell seit 2012 als ausgelaufen, wird aber weiterhin angewandt, bis eine neue Regelung beschlossen ist (wie lange unsere Politiker dafür wohl noch brauchen?).

Etwas komplizierter ist die Lage bei der Rechenschwäche. Nur einige Bundesländer erkennen sie offiziell an und erlauben entsprechende Nachteilsausgleiche. Niedersachsen gehört glücklicherweise dazu. Ein Notenschutz, d.h. das Aussetzen der Benotung ist aber leider nur im Grundschulbereich zulässig – als ob die Rechenschwäche mit dem Übertritt in die 5. Klasse plötzlich verschwunden wäre. Zum Glück gibt es auch an den weiterführenden Schulen viele Lehrkräfte, die das ganze Kind im Blick haben und im Rahmen der Differenzierung und ihrer pädagogischen Freiheit ihre Schüler unterstützen.

Wichtig ist: Ein Nachteilsausgleich ist keine Sonderbehandlung, sondern gelebte Gerechtigkeit. Er soll Nachteile ausgleichen, nicht Vorteile schaffen. Typische Unterstützungsmaßnahmen sind zum Beispiel

  • verlängerte Arbeitszeit, z.B. bei Klassenarbeiten,
  • Hilfsmittel wie ein Lesestift, ein Wörterbuch oder ein Taschenrechner,
  • oder alternative Leistungsnachweise, etwa mündliche statt schriftlicher Aufgaben.

Da die Regelungen von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich sind, lohnt sich ein genauer Blick auf die jeweils geltenden Vorgaben. Für Niedersachsen habe ich die wichtigsten Informationen im Blogartikel Nachteilsausgleich bei LRS und Rechenschwäche – das gilt in Niedersachsen zusammengefasst. Dort findest du auch Links zu vielen anderen Bundesländern und zu Österreich.

Nachteilsausgleich gut vorbereitet.

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Wenn Gerechtigkeit anders aussieht, als wir es gelernt haben

Viele von uns haben in der Schule gelernt, dass alle gleich behandelt werden sollen, damit es fair ist. Doch im Alltag zeigt sich, dass Gleichbehandlung nicht automatisch Gerechtigkeit bedeutet. Wenn ein Kind mit LRS mehr Zeit für eine Klassenarbeit bekommt oder ein Kind mit Rechenschwäche andere Hilfsmittel nutzen darf, wirkt das auf den ersten Blick vielleicht wie eine Ungleichbehandlung. Auf den zweiten Blick wird aber klar: Echte Fairness braucht Mut zur Differenz, damit Lernen für alle möglich wird. Damit dies nicht zu Unmut in der Klasse führt, ist es wichtig, das Thema Lernstörungen gemeinsam mit allen Schülern zu besprechen. Wie das ohne viel Aufwand möglich ist, findest du in unserem Gastartikel auf dem Betzold-Blog. Susanne Seyfried und ich haben zum Aktionstag Legasthenie und Dyskalkulie am 30. September Ideen zusammengetragen, wie Lehrkräfte mit Schülerinnen und Schülern über Lernstörungen sprechen können

Diese Form von Gerechtigkeit als Ungleichbehandlung erfordert eine neue Haltung. Eine, die Vielfalt als Normalität begreift und Unterschiede nicht als Störung, sondern als Teil menschlicher Entwicklung sieht. Empathie und Verständnis sind hier wichtiger als starre Regeln. Sie helfen uns, jedes Kind dort abzuholen, wo es steht, und seine Anstrengungen anzuerkennen – unabhängig davon, wie viel Unterstützung es braucht.

Wenn wir beginnen, Gerechtigkeit auf diese Weise zu verstehen, verändert sich der Blick: weg vom Vergleich, hin zum Vertrauen. Dann geht es nicht mehr darum, dass alle denselben Weg gehen, sondern dass jedes Kind seinen eigenen gehen darf und das mit fairen Bedingungen, um ans Ziel zu kommen.

Das Thema Nachteilsausgleich wird immer wieder in meinen Beratungen von Eltern und Lehrkräften angefragt. Wenn du wissen möchtest, wie du einen Nachteilsausgleich besser verstehen, ansprechen und mit der Lehrkraft gemeinsam umsetzen kannst, lade dir jetzt meinen Elternguide Speak Up herunter. Darin findest du praxisnahe Tipps, Formulierungshilfen und Hintergrundwissen, damit du dich auf das Gespräch mit der Schule gut vorbereiten kannst.

Veröffentlicht unter Lerntherapie allgemein

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